An anderer Stelle dieser Nummer steht die Meldung vom Tode des neunzigjährigen Winzers Peter Vesque aus Stadtbredimus. Reden wir auch von einem Lebenden desselben Namens.
Die Brüder Vesque, Söhne des alten Försters Vesse Pitt waren eine ganze Stube voll, einer gesünder und kräftiger als der andere. Von denen, die noch leben, ist der Älteste ein Phänomen und wert, daß ein Wort über ihn gesagt wird.
Er heißt Jérôme Vesque und war Zollbeamter. Sie kennen ihn sicher. Wenn Sie einem schlanken Mann in Schwarz mit wallendem weißen Vollbart, kerzengrader Haltung, Bauch herein Brust heraus, lebhaften braunen Augen und elastischem Schritt begegnen, der ist es. Er hätte ein Recht darauf, vornüber daher zu schwanken, mit stumpfen Sinnen in die Welt zu starren, griesgrämig, wehleidig, «gaga» zu sein und sich von einem Wärter im Wägelchen durch den Park schieben zu lassen. Denn er ist rund 84 Jahre alt und das Leben hat ihm sehr übel mitgespielt. Frau und Kinder sind ihm gestorben, einen Sohn, ein Bild männlich jugendlicher Schönheit, hat er als letzten verloren, nachdem ein anderer unter tragischen, nie ganz aufgeklärten Umständen durch Totschlag umgekommen war. Das alles hat ihn tief getroffen, aber nicht gebeugt, so wenig wie die Last der Jahre. Die Frische, die ihn auszeichnet, ist so außergewöhnlich, daß sie den Gedanken an Greisenalter überhaupt nicht aufkommen läßt. Das Bezeichnende am Greis ist ja, daß alles an ihm nach innen zu weisen scheint, wie unter einem Überdruck von außen, während die Jugend mit Schmiß und Expansion sich ins Leben hinausdehnt. Genau diesen Eindruck hat man bei dem alten Zollbeamten. Dem Druck des Lebens begegnet er immer noch mit unternehmungslustiger Gebärde. Es ist, als sei er immer noch auf dem Sprung, angriffs- und abwehrbereit. Wir haben für den Habitus des Greisen das Wort „pätterech“. Hier keine Spur davon. Alles ist noch lebendiger Reflex, Sorge um den Eindruck, den man machen will. Auch die geistige Ungebrochenheit, Unmittelbarkeit u. Schnellkraft sind erstaunlich.
Und wenn Sie ihn fragen, wieso er sich so jung halten konnte der Natur und den Jahren zum Trotz, so lacht er und meint, das liege wohl daran, daß er früher beim Korps die stramme Disziplin gelernt hat, die ihn zeitlebens daran hinderte, sich gehen zu lassen. Und dann spricht er wohl auch von seinem Bruder, den die Arbeit krumm gezogen hatte, und er strafft das Rückgrat und reckt die Arme und sagt lachend: Krnondidjeß!
Es kann schon so sein, daß die Kaserne für ihn und andere das federnde Sprungbrett war, von dem aus sie zur Parabel ihres Lebens weiter und schlanker ausholen konnten. Da und dort sieht man noch andere, denen die Disziplin unseres alten Korps die Richtung gegeben hat, aus der sie bis heute noch nicht gewichen sind. Sie haben Pünktlichkeit und Sauberkeit gelernt. Mein alter bärtiger Freund führt in seiner kleinen Wohnung in Hollerich seinen Haushalt ganz allein für sich, und er sieht so adrett aus, als ob Frau, Tochter und Enkelin sich um ihn sorgten.
Eine Volksgemeinschaft bildet sich immer etwas darauf ein, wenn aus ihrer Mitte möglichst viel gut erhaltene Hundertjährige hervorgehen. Wenn wir einmal hierzuland einen Klub der Hundertjährigen gründen, muß Herr Jérôme Vesque Präsident werden.