Wir sprachen hier kürzlich, wie Sie sich erinnern werden, wiederholt von der Redensart, in der die Schläue der Einwohner von Pießingen und ein Rabennest die Hauptrolle spielen.
Dies Rabennest war ein Wespennest. Von allen Seiten regnete es Erklärungen. Der Streit der sieben griechischen Städte um die Ehre, der Geburtsort Homers zu sein, war Kinderspiel gegen den Streit darum, wie, wo, wann, weshalb der oder die Pießinger die Raben oder mit den Raben geteilt haben. Die meisten wußten es einwandfrei von ihrem Vater, ihrer Mutter, ihrem Großvater, ihrer Großmutter oder von einem noch entfernteren Aszendenten. Bis auf kleine Abweichungen stimmten so ziemlich alle Berichte überein. Bis mich gestern auf der Straße ein Bekannter stellte, der es noch besser, ja, der es am besten wußte. Auch von seiner Mutter. Sie hatte es ihm hundertmal erzählt.
Seine Geschichte setzte direkt mit einer Variante von grundstürzender Bedeutung ein. Der ganze Volksglaube an die Legende von Pießingen wird dadurch über den Haufen geworfen. Hier ist der Held ein Pießinger, aber keiner von Pießingen. Sondern er ist der Pießinger aus Pfaffental. Wie! Sie haben den Pießinger aus Pfaffental nicht gekannt! Ich auch nicht. Das trug mir von meinem Bekannten einen Blick der Verachtung ein.
Also der Pießinger aus Pfaffental. Es tut mir leid, die Pießinger aus Pießingen um einen Lorbeer zu bringen, auf dem sie nun schon seit Menschengedenken ruhen. Aber der Wahrheit die Ehre.
Dieser Pießinger, der nicht aus Pießingen war, hatte es faustdick hinter den Ohren. Eines Tages ging er durch den Wald. Es besteht Grund zu der Annahme, daß er Hasenschlingen revidieren wollte, aber das ist Privatsache des Herrn Pießinger Im Wald begegnete ihm ein Mann, der ihm erzählte, er „wisse“ ein Rabennest, und wenn ihm der Pießinger verspreche, daß er den schönsten von den jungen Raben bekäme, werde er es ihm zeigen. Der Pießinger versprach es und der Mann führte ihn zu der Pappel, auf der das Rabennest saß. Der Pießinger kletterte hinauf, und wie er grade nach dem Nest greifen wollte, flog einer von den jungen Raben fort.
„Da!“ rief der Pießinger herunter. „Da fliegt der schönste. Das war deiner. Jetzt bist du drum!“
Es ließen sich an diese Geschichte allerhand Erwägungen knüpfen. Aber ich will nur auf eine merkwürdige Tatsache aufmerksam machen. Kommt es Ihnen nicht verwunderlich vor, daß die Leute in der Zeit, wo obige Geschichte entstand, so großen Wert auf einen Raben legten? Hätte es sich um einen Kartoffelacker, einen Schweizerkäs oder eine schöne Frau gehandelt, so hätte es gelohnt, darum herum eine Teilungsgeschichte zu flechten. Aber um einen Raben! Ein unnützes Tier, das zu Tausenden in den Lüften herumfliegt, ohne daß es jemand für der Mühe wert hielte, ihm nachzustellen! Oder gab es damals für den Raben eine Verwendung, von der wir nichts mehr wissen? Es heißt, aus einem alten Raben lasse sich eine vorzügliche Suppenbrühe kochen. Und die Schwungfedern Hans Huckebeins werden von den Pfeifenrauchern hoch geschätzt, weil sie beim Pfeifenputzen die besten Dienste leisten. Aber dieser Vorzüge halber wären die Raben sicher nicht als kostbares Wertobjekt in die Geschichte gekommen.
Sie sehen, Pießingen und die Pießinger sind ein ergiebiges Feld für unsere Folkloristen.