Original

29. Mai 1925

Die schwerste Schuld ist die Schuld der Dankbarkeit.

Sie ist ihrer Natur nach untilgbar und in ihrem Wesen so, daß sie in die Persönlichkeit des Schuldners eingreift.

Eine Geldschuld entsteht und entwickelt sich sozusagen außerhalb deines Ichs. Du kannst einem eine Million schulden, ohne daß weder er noch du etwas dazu getan habt, und besonders ohne daß in deinem Verhältnis zur Welt das mindeste geändert wird. Du bezahlst die Million zurück und jede Spur der Schuld ist getilgt.

Bei der Schuld der Dankbarkeit verhält es sich anders. Sie ist in einer Leistung begründet, die beim Empfänger sein Verhältnis zum Leben in günstiger Weise beeinflußt, es wird dadurch seiner Persönlichkeit etwas einverleibt, was ihren Wert erhöht, materiell oder geistig. Es ist, als sei fortan ein Stück dieser Persönlichkeit das Verdienst oder geradezu die Schöpfung des Dankesgläubigers. Das läßt sich niemals zurückerstatten. Nur in einem Fall und auch da nur scheinbar: Jemand hat dir das Leben gerettet. Du magst dein Leben auf Milliarden bewerten und ihm Milliarden bezahlen, deine Schuld ist damit nicht getilgt. Denn du bist ihm dich selber schuldig. Du kannst dein Leben für ihn geben, aber dann hört alles auf, dann bist du nicht mehr da, um dich am Bewutßsein der bezahlten Schuld zu freuen, und darauf kommt es doch an.

Wie sich jeder Einzelne zur Schuld der Dankbarkeit stellt, darin verrät er seinen Charakter.

Dem Großzügigen, Überlegenen ist die Dankesschuld keine Last, sondern ein Genuß. Seine Persönlichkeit ist so reich und groß und stark, daß ihn der fremde Flicken darauf nicht geniert. Er ist dankbar im Herzensgrund und aus natürlichem Empfinden heraus, weil er weiß, daß er im selben Fall dasselbe getan hätte.

Andre, die mit dem seelischen Duodezformat, verhalten sich zur Dankesschuld mit den Allüren des Geschäftsmannes. Sie schätzen das Empfangene ab, stellen mit Gegenleistungen das materielle Gleichgewicht her und halten sich für quitt. Sie sind wie die Frauen, die Liebe nur in Gegenrechnung abgeben - eine Zärtlichkeit für einen Hut, einen Mantel, ein Paar Schuhe, eine Reise an die See usw. Diese Pedanten der Dankbarkeit empfinden eine Wohltat nie als eine Geste seelischer Schönheit, mit der sich die Menschheit ehrt, sondern als einen notwendigen, im Moment auch willkommenen Eingriff in ihre Persönlichkeit, den sie loswerden wollen, wie den Logierbesuch eines Erbonkels, der ihnen lästig fällt.

Die Cyniker und Streber erklären die Dankbarkeit für ein Laster und stellen ihr die Tugend der Selbstsucht als gattungerhaltenden Faktor entgegen. Wenn sie die Theorie nicht nur zum eigenen Gebrauch aufstellen, sondern gelten lassen, daß ihnen für eventuelle Wohltaten jedesmal in die Hand gespuckt wird, so mag man sie laufen lassen.

Noch weniger Interesse, als die säumigen Dankesschuldner, verdienen indes die Dankesgläubiger, die ihre Ansprüche, ihre Forderungen anhaltend ausposaunen und alle, denen sie einen Dienst geleistet zu haben glauben, an ihren Triumphkarren spannen wollen.

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    Katalognummer BW-AK-013-2926