Original

11. Juni 1925

Der städtische Gemeinderat hat kürzlich den löblichen Beschluß gesaßt, die Giebelfläche des Hauses Ecke Regierungs- und Nikolausstraße schön sauber verputzen zu lassen. Es war die höchste Zeit. Die meisten Fremden, die sich Kammergebäude und Schloß ansehen, oder in der Wassergasse den Hof mit dem alten Brunnenheiligen aufsuchen oder bis zum Fischmarkt und zur Schloßbrücke vorstoßen wollten, kamen an dieser vernachlässigten Ecke vorbei und machten sich ihre Gedanken über das Verschönerungsbedürfnis, das in unserer Stadt herrschte.

Jetzt ist dort eine blendend weiße, große Mauerfläche und an ihrem Fuß ein hübsches Gärtchen. Wir brauchen uns der Ecke nicht mehr zu schämen.

Aber man erkennt sofort, daß wir hier im nüchternen Norden wohnen, daß wir kein Expansionsbedürfnis, keine Sehnsucht nach Geräusch und Gebrause in uns tragen. Glauben Sie denn, im Süden brächten sie es über sich, diese weiße Fläche jahraus jahrein in ihrer stummen Reinheit dastehen zu lassen, ohne sie zu bemalen! Denken Sie nur: Weit über hundert Meter Mauerfläche, und nichts drauf! Geht nur nach Oberbayern, so seht Ihr auf ähnlichen Giebeln alle sieben Geheimnisse des Rosenkranzes, Himmelfahrt, Grablegung, jüngstes Gericht, Kirmesheilige, alle möglichen frommen Bilder im buntesten Alfresco prangen. Wäre es zu kühn, zu beantragen, daß auch der Giebel des Hauses Pauly von Künstlerhand geschmückt würde?

Und da öffnet sich denn eine unendliche Perspektive auf die Gegenstände der eventuellen Mauerbilder. Am nächsten liegen Siegfried und Melusina. Zum Beispiel: Melusina im Bad, Siegfried draußen, der mit seinem Schwert ein Loch in die Türe bohrt, um seine Frau im Wasser zu beastlochgucken. Die Melusinasage enthält übergenug Stoff zu Bildern, mit denen der ganze Giebel aufs anmutigste angemalt werden könnte.

Oder Johann der Blinde, wie er die Schobermeß stiftet, mit Ansichten der Messe einst und jetzt.

Auch die neuere Geschichte ist reich an Vorwürfen. Wie wäre es, wenn man zehn Schritt von der Kammer in einem historischen Gemälde großen Stils den Auftritt vom 14. August 1919 verewigte, wo es drauf und dran war, daß die aufgeregte Menge den Palast der Nation gestürmt und die Erwählten des Volkes gelyncht hätte? Auch eine Nachbildung im Großen des Titelblattes des „Vulleparlament“ von Dicks mit entsprechenden Ergänzungen und Anpassung an die jüngste Vergangenheit würde sich sehr interessant ausnehmen und erzieherisch wirken.

Wenn Sie der Meinung sind, daß solche Süjets zu auffällig an die Politik grenzen, da wo sie am unerfreulichsten ist, so würde ich vorschlagen, auf den Mauergiebel eine getreue Ansicht derselben Ecke malen zu lassen, so wie sie ausgesehen hat, als in der Nikolausstraße noch die schmalen Häuschen standen, die sich an den nunmehr freien Giebel lehnten. Wer denkt noch an jenes alte Straßenbildchen? Und sind wir es unsern Kindern und Kindskindern nicht schuldig, daß wir ihnen ein Bild vermitteln von ihrer Vaterstadt, wie sie aussah, als der Großvater die Großmutter nahm?

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    Katalognummer BW-AK-013-2936