Original

12. Juni 1925

Die Zeiten der Sklaverei liegen noch nicht so weit hinter uns, wie Sie vielleicht glauben. Hier ist ein Dokument aus dem Jahr 1886, woraus hervorgeht, in welch schimpflicher Sklaverei damals die Gesellschaft von Luxemburg und sicher des ganzen zivilisterten Europa schmachtete.

Im Winter 1885-1886 wurde im Grand Hôtel Brasseur eine Hochzeit gefeiert, bei der die Gäste folgendes Menü zu bewältigen hatten:

„Huîtres Royales d’Ostende - Potage bisque d’Ecrevisses - Bouchées à la Montglas - Turbot sauce hollandaise - Filet de bœuf à l’Italienne - Suprême de bécasses, sauce chasseur - Riz de veau, petits pois - Punch Suédois - Cognac mousseux - Dindonneaux truffés - Perdreaux rôtis - Salade de laitue - Aspic de foies gras - Homards en belle vue sauce verte - Glaces panachées - Pièces et gâteaux montés - Fruits - Desserts.“

Dazu gab es folgende Weine:

„Chablis - Xèrès - Moët et Chandon - Dhroner Auslese et Médoc - Pontet Canet - Ch. Ludon - Lynch-Bâges - Richebourg - Musigny - Rauenthaler Berg - Scharzhofberger - Heidsieck Monopole - Muscat Rivesaltes - Tokay.“

Es soll hier nicht die Rede sein von obiger Speisenund Weinfolge als gastronomischem Kunstwerk. Jeder Kenner wird zu beurteilen wissen, ob sich die einzelnen Schüsseln mit den nötigen Komplementärschwingungen folgen, ablösen, ergänzen oder heben, ob zu jedem Gericht der dazu gereichte Wein adäquat war, ob die Symphonie vor und nach dem Sorbet, das in der Mitte als schwedischer Punsch und moussierender Cognac die abgestumpften Gaumen aufquicken sollte, richtig eingeteilt war. Von alledem soll hier nicht die Rede sein, sondern davon, daß die Menschheit vor vierzig Jahren noch so unglaublich tief versklavt war - nicht durch ihren Bauch, wie Sie etwa behaupten könnten, sondern durch Sitte und Unsitte.

Wer es sich damals „schuldig war“, ein Hochzeitsmenü von sechzehn Nummern auffahren zu lassen, durfte sich nicht mit fünfzehn begnügen, sonst wäre ihm der Vorwurf der Schäbigkeit gemacht worden. Die Gesellschaft von damals hatte sich eben zu diesem Gargantua-Standpunkt hinaufgegessen. Nicht etwa, daß es ihr Vergnügen gemacht hätte. Es ist hundert gegen eins zu wetten, daß von den Gästen jenes üppigen Mahles die allermeisten schon nach den Schnepfen, sicher aber nach den Kalbsmilchern, wie man sagt ihren Beschlag hatten und am liebsten aufgebrochen wären. Das Hochzeitspärchen schon ganz sicher. Aber sie mußten weiter genießen, an ihre Stühle geschmiedet wie Sklaven an die Ruderbank.

Das große Donnerwetter des Kriegs hat darin glücklicherweise Wandel geschaffen. Das öde Epos in zwei Teilen ist durch ein frisches Sonett ersetzt. Es heißt nicht mehr: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen, - sondern: Eins, aber ein Löwe.

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    Katalognummer BW-AK-013-2937