Ich erhalte folgende Zuschrift aus Lehrerkreisen:
In Ihrem Abreißkalender von Sonntag halten Sie eine Nachschau über den Besuch der Folklorekurse vom 5. und 6. Juni und stellen fest, daß die Lehrer von heute in ihrem Äußern und Benehmen gegen früher eine vorteilhafte Änderung aufweisen. Sie atmen heute mehr Freiluft.
Der Beginn dieser Umgestaltung datiert von dem Inkrafttreten des „bösen“ Braun’schen Gesetzes. Durch dieses Gesetz wurden die Zertifikate, welche der Pfarrer dem Lehrer bei Stellenwechsel und bei Gesuchen um Zulassung zu den Brevetprüfungen auszustellen hatte, abgeschafft. Der Lehrer wurde dadurch von dem Druck, den der Geistliche bei jeder Gelegenheit ausübte, befreit, er fühlte sich selbständiger und konnte sein Benehmen auch selbständiger einrichten. Die Freiluft wehte ihm entgegen, und er genoß sie zu seinen und der Allgemeinheit Gunsten. (Wenn hier der Ausdruck Lehrer gebraucht wird, so ist damit auch die Lehrerin gemeint.)
Ein zweiter Druck lastet aber noch heute auf dem Lehrerstande, und zwar auf ihm allein, und wenn dieser auch behoben wäre, dann käme die Freiluft auch den Schülern zugut.
Dieser zweite Druck ist das Nummernsystem.
Gegenwärtig werden die Lehrer von ihren Inspektoren numeriert mit 1, 2, 3, 4, 5, statt, wie es bei den andern Beamtenkategorien üblich ist, nach dem Grade von Pflichterfüllung oder Pflichtvergessenheit eingeschätzt zu werden. 80 Prozent des Resultates einer Schule hängen aber von der Intelligenz der Schüler ab, von Dingen, die der Lehrer nicht ändern kann, wofür er aber in Form von Schulnummern, Schulresultat verantwortlich gemacht wird. Der Lehrer wird also durch die Umstände gezwungen, beständig und übermäßig auf die Kinder einen Druck auszuüben, und diese werden schließlich geistig «forbi», wie der luxemburgische Ausdruck heißt, statt zu geistig aufgeklärten und selbständigen Menschen heranzuwachsen. Würde das Nummersystem abgeschafft, wofür der letzte Lehrertag so energisch eingetreten ist, so würde es dem Lehrer möglich gemacht, seinen Unterricht mehr nach dem Geisteszustand des Kindes einzurichten und nicht fast ausschließlich nach den Inspektionen. Die Freiluft würde auf die Schüler geistig und körperlich ebenso vorteilhaft einwirken, wie das Gesetz von 1912 auf die Lehrer.
Im Auftrag einer Gruppe von Lehrern,
ABC.
Dies Nummernsystem im Volksschulwesen mutet tatsächlich veraltet und ein wenig kindisch an. Wenn es wahr ist, daß man eine Stufe höher, im mittleren Unterricht, die Einführung dieses Systems als lächerlich, oder nach der andern Seite gradezu als Beleidigung des Professorenkorps empfände, so begreift es sich, daß die Lehrer dagegen aufstehen, zumal sie am besten dessen Nachteile für die Schule - soweit sie aufs Leben vorbereiten soll - zu erkennen in der Lage sind. Zugegeben, daß einzelne Lehrer, und nicht die besten, ohne das Nummernsystem sich gehen ließen: So ist das kein Grund, diesen minderwertigen Elementen zulieb die besseren und besten in beengender Weise an der Kanthare des Nummernsystems zu halten.