Original

19. Juni 1925

Es war zu spät! Er hatte mich schon beim obersten Rockknopf gepackt und ließ mich nicht mehr los.

Ich war an einer Straßenecke auf ihn geprallt und wußte sofort, ich war verloren. Ich machte einen schwachen Versuch, loszukommen. Ich gab vor, ich sei auf dem Weg zur Aula des Athenäums, wo ein Vortrag über Leonardo da Vinci als Luftschifftechniker stattfand. Er sagte: Wie sich das trifft! Eben dahin wollte ich ja auch. Gehen wir halt zusammen.

Ich ergab mich drein. Ich sagte nur noch, ich halte besonders drauf, die Einleitung zu dem Vortrag nicht zu verpassen. Er versicherte mir, er ginge eigentlich nur wegen der Einleitung hin.

Sie kennen ihn. Bei Ihnen heißt er vielleicht Lehmann oder Dürang oder Soundso. Er ist überall. Er ist unentrinnbar. Er ist ein sogenannter Stehenbleiber. Wie es bei den Pferden Paßgänger und Krippenbeißer usw. gibt, so gibt es bei den Männern Stehenbleiber. Bei Frauen wurde, so viel ich weiß, die Erscheinung noch nicht beobachtet, sie gehen oder sie stehen, aber sie „panachieren“ nicht, wie die männlichen Stehenbleiber.

Diese reden überm Gehen bis zu einem gewissen Punkt, den sie besonders eindrucksvoll gestalten, als Pointe herausarbeiten wollen. In solchen Augenblicken bleiben sie stehen. Man denkt an die Musikkapelle im Zirkus, die aussetzt, wenn der Akrobat vom Trapez unterm Dach herunter ins Netz springt. Du mußt mitstehen bleiben, ob Du willst oder nicht. Der Stehenbleiber entwickelt Dir meinetwegen seine Ansichten über die Butterpreise. Er betrachtet die Butter in ihrem Werdegang, vom Verdauungsapparat der Kuh bis auf Deinen Frühstückstisch. Das ist ein ganzes Ende. Schon beim Futter bleibt er plötzlich stehen, im schönsten Redefluß, stößt seinen Stock auf den Boden, wirft die Arme hoch, schießt Blitze aus den Augen, daß Du meinst, sie knattern zu hören, und fragt Dich, rennt Dir wie eine stählerne Heugabel die Frage durch den Leib, ob es nicht ein Skandal sei, daß die Bauern das Heu auf dem Halm eintrocknen lassen, statt es zu mähen, wenn es noch schön saftig und schmackhaft und nahrhaft ist! Und es ist, als ob er Dir Deine Zustimmung aus dem Gekröse reißen wollte. Du sagst schwach und feig: Na ja, allerdings! und ziehst ihn weiter. Er folgt zehn Schritte weit und ist bei der Stallwirtschaft angelangt. Und wieder bleibt er stehen, stößt seinen Stock usw. s. oben.

Nun denke Dir, statt von den Butterpreisen redet er von der Eisenbahnfrage, vom Statut Tissier, von den neuen Straßennamen, von der Valuta und andern aufregenden Dingen: Dann wird er zum Phänomen, zum Schauspiel für die ganze Straße, und Du bist sein Statist, sein griechischer Chor, etwas wie die Mauer, gegen die der trainierende Fechter ausfällt. Solche Stehenbleiber sind eine Gefahr für ihre ganze Bekanntschaft. Es gibt Entziehungskuren für Alkoholiker: Warum gibt es keine ähnliche Kur für Stehenbleiber? Jetzt im Sommer sollten die Männer, die mit Wasserleitungsschläuchen die Straßen abspritzen, das Recht und sogar die Pflicht haben, ihre Lanzen gegen alle Stehenbleiber zu richten.

Wir kamen zum Leonardo da Vinci-Vortrag, als er grade fertig war. Dafür wußte ich aber ganz genau, wie es gemacht werden müßte, um den Franc vor dem Untergang zu retten. Ich weiß genau die Stellen, wo er stehen blieb, um es mir zu erklären.

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    Katalognummer BW-AK-013-2943