Original

21. Juni 1925

Herr Collart zitierte am Donnerstag in der Kammer einen Artikel aus dem Code civil, unserm bürgerlichen Gesetzbuch.

Sie glauben gar nicht, wie sich dieser Code civil in manchen Kapiteln so anregend liest. Es ist wie ein Stück Kulturgeschichte aus allererster Hand. Als ob Sie mit Ihrem Urgroßvater sich über Feld und Wald, Wiesen und Äcker unterhielten.

Der Artikel, den Herr Collart verlas, umschreibt die Rechte eines Grundbesitzers auf den Wasserlauf, der sein Eigentum durchfließt. Dies Eigentum heißt im alten Code civil das Erbe, l’héritage. Es wird also als selbstverständlich angenommen, daß aller Grundbesitz normalerweise ererbt ist. Diese Selbstverständlichkeit des Dauerhaften, Zuverlässigen, Seßhaften im Wesen des Grundbesitzes weckt wehmütige Gedanken über die Vergänglichkeit, die heute mehr als je den Besitz charakterisiert. Ein Patrimonium, das heute durch Geschlechter in derselben Familie bleibt, wird immer mehr zur Seltenheit. Die Güter gleichen heute vielfach den Frauen, die einen Mann nach dem andern unter die Erde bringen, um wieder zu heiraten. Alle paar Jahre sitzt ein andrer Herr auf dem Hof. Und der Begriff „Erbe“, der im alten Code civil den ganzen Grundbesitz beherrscht, schrumpft immer mehr ein.

Es wurde noch in einem andern Zusammenhang vom fließenden Wasser und vom Grundbesitz gesprochen. Es wurde bitter Klage geführt über die Verunreinigung der Bäche und den Schaden, der dadurch der Allgemeinheit verursacht wird.

Die schlimmsten Heimtücker waren immer die Brunnen- und Bachvergifter. Heute entschuldigt man sie, weil sie, wie es so schön heißt, ein wichtiger Faktor der Volkswirtschaft sind. Man muß sich damit abfinden, daß Recht und Gerechtigkeit eine Ziffernsache geworden sind. Wenn sich zwölf zusammentun, um eine Million im Jahr zu verdienen und dabei Hunderte um je hundert Francs schädigen, so geben zwar nicht die zwölf gegen die hundert, wohl aber gibt die Million gegen die Zehntausend den Ausschlag. Beispiel: Die Lederfabriken von Wiltz sind ein Millionengeschäft. Den Bach von Wiltz bis Kautenbach entlang liegen viele Kilometer Uferwiesen. Es soll gar nicht die Rede sein von den Fischern, denen ein harmloses Vergnügen durch die Vergiftung der Forellen vernichtet wird. Sondern von den Wiesenbesitzern, die ihr Fischereirecht nicht mehr verpachten können. Ihr Erbe ist dadurch intrinsisch entwertet, weil ein daran haftendes Recht illusorisch gemacht wird. Diese theoretische Entrechtung setzt sich in der Praxis in einen ziffernmäßig nachzuweisenden Verlust um. Die Fischereipacht bringt von Jahr zu Jahr höhere Beträge ein. Es gibt Wiesenbesitzer, die für ihre Fischerei jährlich mehr Geld einnehmen, als sie für Heu und Grummet zusammen aus ihrer Wiese lösen. Diese Einnahmequelle wird ihnen entzogen, solange durch die Verunreinigung der Wiltz die Forellen ferngehalten werden. Natürlich fällt es niemanden ein, die Einstellung der Wiltzer Gerbereien zu verlangen, weil durch sie die Wiesenbesitzer am Bach entlang um Hunderte und Tausende geschädigt werden. Denn wie gesagt, Recht und Gerechtigkeit sind eine Ziffernsache und Millionen geben allezeit gegen Tausende den Ausschlag. Damit mußt Du Dich abfinden, um Dich nicht tagtäglich völlig unnützerweise grün und gelb zu ärgern. Hast Du diese innere Umstellung ein für allemal vollzogen, so wirst Du Dich wundern, wie Dir die Welt in vollkommen anderm, günstigerem Lichte erscheint. Kannst Du es nicht, dann um so schlimmer für Dich. Dann hättest Du zur Zeit des alten Code civil und nicht erst jetzt auf die Welt kommen sollen.

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    Katalognummer BW-AK-013-2945