Original

4. Juli 1925

Confucius soll einmal gesagt haben, die liebsten Trunkenbolde seien ihm die, die nicht des Genusses, sondern des Rausches wegen trinken.

Confucius durfte sich einen solchen Ausspruch leisten, weil zu seiner Zeit der Alkoholismus noch kein soziales Übel war. Es gab damals Trunkenbolde wohl nur als Einzelerscheinung, wie es heute Sonderlinge, wie es Künstler, wie es allerhand merkwürdige Spezialisten gibt. Sich betrinken war eine durchaus individuelle Angelegenheit, keine soziale Funktion.

Wie ich Confuctus kenne, wäre er, wenn er heute lebte, sicherlich Mitglied eines Antialkoholvereines. Er wüßte auch, daß das Trinken in vielen Fällen kein richtiger Genuß mehr ist, und daß in der Hauptsache der Rausch bezweckt wird. Heute trinkt ein Mann, um in Stimmung zu kommen. Das ist der Rausch. Aber Confucius würde heute darüber anders denken, als vor beiläufig 2400 Jahren.

Wer gegen die Trunksucht ankämpfen will, muß sich zuerst die Frage vorlegen, wie sie entstanden ist. Es klingt paradoxal, wenn man behauptet, die Trunksucht in ihrem heutigen Umfang, in ihrer Gestalt als soziale Plage, sei nicht durch die Sucht nach dem Trunk entstanden, sondern durch das Bedürfnis nach Geselligkeit.

Die Arbeitsbedingungen sind heute so, daß die Arbeit den Mann von seinesgleichen innerlich isoliert. Sie nimmt ihn so in Anspruch, daß er sich ihr ganz widmen muß. Erst wenn Schicht ist, tritt die Entspannung ein und mit ihr das Bedürfnis nach Aussprache, Unterhaltung, Geselligkeit, Zusammensein mit seinesgleichen. Es klingt gar treu und bieder, wenn man dem Arbeiter rät, nach Feierabend heimzukehren zu seiner liebenden Gattin u. seinen braven Kindern. Aber für viele Arbeiter hat das Heim eben nicht den Reiz, den es haben könnte, und alle haben jenes Bedürfnis, unter Menschen Mensch zu sein, mit den Kameraden sich auszusprechen, sogar zu fachsimpeln, über die Chancen unseres großen Nick im Tour de France zu debattieren usw. usw.

Heute ist es leider so, daß sich eine solche Geselligkeit nur im Wirtshaus verwirklichen läßt. In den Dörfern, wo noch der Väter strengere Sitte und ausgeprägter Sparsinn herrscht, schafft der Instinkt des Bauern Ersatz für das Wirtshaus. Sie sitzen an lauen Sommerabenden gern auf einem „Kill“ zu Dutzenden zusammen, ohne einen Tropfen zu trinken. Der Fabrikarbeiter hat keinen „Kill“, er ist aufs Wirtshaus angewiesen. Er geht hin, ursprünglich nicht um zu trinken, sondern um im behaglichen Ausruhen sich mit Freund und Kamerad zu unterhalten. Das Trinken ist sekundär und wird primär erst durch die Gewohnheit. Und da das Trinken über den Durst eine Begleiterscheinung der Geselligkeit ist, so ist es eben so weit gekommen, daß die Wirtshäuser, statt Mittelpunkt der Geselligkeit zu sein, zu Brutstätten des Alkoholismus geworden sind. In Belgien hat man in elementarer Erfassung des Grundübels das Schnapstrinken in Gesellschaft verboten und es nur als Privatvergnügen am heimischen Herd gestattet, von wo es nicht mehr endemisch wirkt.

Nach alledem muß es aussichtslos sein, den Alkoholismus zu bekämpfen, wenn nicht auf anderm Weg das Bedürfnis befriedigt wird, das die Massen dem Alkoholismus ausliefert. Wie das praktisch durchzuführen wäre, ist eine der größten Pretsaufgaben der Zeit. Aber ich glaube, daß Anregung und Durchführung nur aus den Kreisen der Masse selbst zu erwarten sind. Wer von oben herab eingreifen will, läuft Gefahr, am Unverständnis der Arbeiterpsyche zu scheitern. Es ist da mit Imponderabilien zu rechnen, die nur der kennt, der in und mit der Masse lebt, leidet und strebt.

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