Eine Leserin ruft Herrn Grimmberger an und fordert ihn auf, gegen den Mißbrauch der Rundfunkkonzerte zu Felde zu ziehen. „Wo sind meine idyllischen Sommerabende geblieben, schreibt sie, da ich in meinem Gärtchen sitzen und träumen oder mich in ein schönes Buch vertiefen konnte! Die Leuchtkäser taumelten durchs Gebüsch, der Braus der Stadt war zu einem weichen, gedämpften Summen herunter gesunken, aus dem nur ab und zu das Klingeln einer Elektrischen oder das Singen der Schienen aufstieg, wenn der Wagen um die Ecke fuhr. War Konzert auf dem Paradeplatz, so trug mir der Wind einige verwehte Akkorde zu, einen Sommer lang konnte ich gar die Nachtigall aus einer Baumgruppe ganz in der Nähe schluchzen hören. Heute lassen meine Nachbarn ununterbrachen von fünf Uhr nachmittags bis Mitternacht ihre T. S. F. lärmen. Jawohl, lärmen! Sieben Stunden lang gröhlt und schmettert es aus dem offenen Fenster. Denn natürlich lassen sie das Fenster weit offen, damit die Nachbarschaft alles mitgenießen kann. Und ich, die ich eine Sonnenanbeterin bin, wünsche heute den Winter herbei, damit die Nachbarn abends, wenn ihr Rundfunk wütet, ihre Fenster geschlossen halten! Ist es mir gelungen, dem schrecklichen Vorlautsprecher zum Trotz zu entschlummern, so dauert es kaum eine halbe Stunde, bis ich entsetzt aus gräßlichen Träumen auffahre und grade noch höre, wie ein Tenor in Paris London oder sonstwo weit draußen in der Welt ein dreigestrichenes C in den Trichter der Sendestation hineinstopft, daß ihm die Schlagadern schwellen und die Augen aus den Höhlen treten. Denn nicht anders kann ich ihn sehen. Bitte, wollen Sie nicht Herrn Grimmberger veranlassen, gegen diesen Unfug Einspruch zu erheben!“
Ich bedaure, Herr Grimmberger ist in der Sommerfrische und hat vorsichtshalber keine Adresse hinterlassen. Mit den Rundfunkkonzerten ist es eine eigene Sache. Die einen lieben, die andern verabscheuen sie. Wer nun eine Radiostation hat, läßt gern die erstern an ihren Darbietungen teilhaben. Es ist zum Teil menschliche Güte, zum Teil eine Art Expansionsdrang. Man freut sich an der Freude der andern, aber man empfindet das Wunder der Schwingungsübertragung ein klein wenig als eigene Leistung, man gibt von Seinem und weitet seine Persönlichkeit in die Nachbarschaft hinaus. Urinstinkt: Persönlichkeitserweiterung als selbstverständliche Folge und Fortsetzung des Erhaltungstriebes.
Merkwürdig nur, daß dieser Ausdehnungsdrang zu den sichersten Merkmalen einer schlechten Erziehung gehört. Das heißt, in dem Maße, wie er wahrnehmbar wird. Der Knote empfindet Lust daran, sich auffällig zu machen. Er ist von Anrempelungsdrang erfüllt. Jeder soll spüren, daß er da ist. Für diskretes Auftreten hat er kein Organ. Er tritt genießerisch in die Pedale. Er mischt sich ins Gespräch einer völlig unbekannten Gesellschaft, er kann sich nicht denken, daß man Rücksicht üben, nicht durch hemmungslose Raum- beanspruchung körperlich und akustisch die Kreise der andern schneiden soll. Die stillschweigende Übereinkunft der Gesellschaft, daß sich keiner dem andern aufdrängen soll, ist ihm zu subtil.
Und doch! Ist dieser Widerwille gegen unbequeme Expansion immer nur ein Zeichen guter Erziehung, verrät er nicht oft schon die absteigende Linie, den Mangel an Widerstandskraft und an Fähigkeit zur Bekräftigung des eigenen Individuums?
Wäre meine Korrespondentin ein energischer junger Mann, so würde sie sich ein Piston anschaffen und damit den Rundfunk in die Flucht blasen.