Original

18. September 1925

Frantz Clement hat uns zwischen Versailles und Port-Rohol einen Brief über das luxemburger Volkslied geschrieben. Ich habe den Brief im heimischen Dorfwirtshaus gelesen, während links der Mathis sang: „Es wollt ein Mädchen früh aufstehn,“ und rechts der Joß auf den Tisch schlug: „Bei der Kaifrin Zolefine - Machen wir heut abend Musika!“

Das luxemburger Volkslied? Wer dabei „luxemburger“ betont, sagt etwas aus, was sich auf etwa ein Dutzend Lieder bezieht. Wer „Volkstied“ betont, meint damit den ganzen Schatz naiven Gefühlsausbruches, der seit Jahrhunderten sich in deutscher Zunge Lust gemacht hat. Frantz Clement meint, es lebten bei uns im Volksmund deutsche Lieder fort, die sich hier erhalten hätten, weil sie uns wesensverwondt sind, während sie in Deutschland versickert wären, weil das seelische Erdreich dafür fehlte. Er spricht von fünfzehn bis zwanzig solcher Lieder, von denen die Hälste in keiner deutschen Sammlung zu finden sei. Es wäre von brennendem Interesse, diese Lieder zu kennen und vor dem Vergessenwerden zu retten. Ich habe bis jetzt sozusagen alle deutschen Volkslieder von irgendwelchem Wert, die hierzulande noch gesungen werden, im „Zupsgeigenhans!“ gefunden.

Frantz Clement zeiht mich des ästhetischen Rigorismus und hält mir entgegen, daß die Sentimentalität im Volkslied keineswegs verächtlich sei.

Es gibt echte und verlogene, spontane und erpreßte, gesunde und ungesunde Sentimentalität, wie es Blumendust und Pomadengeruch gibt. „Man muß sich auf die Witterung verlassen,“ sagt Frantz Clement sehr richtig.

Was den ästhetischen Rigorismus betrifft, so möchte ich mich nicht ohne weiters dazu bekennen.

Man kann das Volkslied so auffassen, daß man sagt: Was das Volk singt, ist Volkslied. Wie man etwa sagen würde: Was zur Möblierung eines Hauses dient, ist Möbel. Oder: Was als Wein in den Handel kommt und getrunken wird, ist Wein.

Man kann aber auch sagen: Das Volkslied ist ein Kunstwerk in seiner Art, wie ein alter Bauernschrank oder eine Stockuhr, die ein Dorfschreiner mit ziemlichem Geschick und naivem künstlerischen Einfühlen gebaut hat, in ihrer Art Kunstwerke sind. Der Schrank und die Uhr vererben sich von Geschlecht zu Geschlecht und werden in späten Zeiten vom städtischen Geschmack als Prachtstücke gewertet, indes Mehlkiste und Nachttisch trotz ihrer Brauchbarkeit und trotz ihres hohen Alters niemals zu Chren kommen.

Ganz sicher wurden vor 200-300 Jahren, als die Perlen der deutschen Volksliederkunst entstanden, auch noch andere Lieder gesungen, vielleicht eine Zeitlang sogar lieber und lauter, als die, die heute noch in aller Munde sind. Trotzdem sind jene längst vergessen, weil - - nun, weil sie eben keine Kunstwerke waren, sondern sozusagen Gebrauchsgegenstände, wie Nachttisch und Mehlkiste.

Hier hilft wirtlich die Witterung.

Aber es gibt noch ein anderes Mittel, die Spreu vom Weizen zu sondern. Man muß das Auge zu Hilfe nehmen. Man muß sich zum Lied das Bild denken. Machen Sie den Versuch. Sie werden erstaunt sein, mie das Bildhaste, das aus jedem Lied aufsteigt, mit eins den Gassenhauer vom echten Volkslied, die Moritat von der Bolinde scheidet. Das gilt für die Volkslieder aller Nationen.

Nehmen Sie zum Beispiel die herrliche Sammlung französischer Volkslieder von Yvette Guilbert und denken Sie sich zu jedem Lied das entsprechende Bild: So steigt die ganze Süße, das ganze Pathos des Daseins Ihnen auf. Oder malen Sie sich die Szene aus zu dem Lied: Jetzt gang i an’s Brünaele, trink aber net ... Oder: Kommt a Vogerl geslegen ... Und als Gegensatz dazu: Heinrich schlief bei seiner Neuvermählten, Einer reichen Erbin an dem Rhein! ... Oder gar das Epos von Friedrich Wilhelm Schulze, der mit seiner Schwiegermutter abrechnet: Steckt ihr 'n Regenschirm in den Leib - Spannt ihn auf zum Zeitvertreir ...

Wenn es Rigorismus wäre, den Volksliederschatz rein zu halien von ordinärem Bänkelsängertum, den Naturwein des Volksliedes rein von der Verwässerung und Verzuckerung durch Verständntslosigkeit, dann, lieber Frantz Clement, wären wir beide - hossentlich - unter den Rigoristen.

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