Original

20. September 1925

Solange in Genf der Völkerbund tagt, steht Genf im Mittelpunkt des Interesses der zivilisierten Welt.

Aber Genf braucht keinen Völkerbund, keinen Friedenskongreß, keine Zeitungsreklame, um im Mittelpunkt des Interesses aller zu stehen, die je seinen Zauber empfunden haben. „Wenn mir, wie dem Dottor Faust, einmal der Teufel erschiene, ich würde ihm meine Seele um sein Gretchen der Welt, wohl aber um eine Villa am Genfer See verschreiben!“ So sagte einst ein weiser junger Mann, der, wie ich ihn kenne, heute noch ganz genau derselben Ansicht ist.

Der Zauber des Genser Sees ist ein Ding für sich. Er ist gegen den Zauber der italienischen Seen wie Frische gegen Schwüle, wie Morgen gegen Mittag.

Und wenn man sieht, wie alle hohen Räte und alle Kongresse nach Genf streben, so macht man sich seine Gedunsen über Ziel und Zweck dieser Veranstaltungen und darüber, wie es eigentlich gemeint set.

Wer sein Leben lang allerhand Kongresse besucht hat, weiß Bescheid. Es ist schon bezeichnend, daß die messten in die Ferien- und Reisezeit fallen, wo der Mensch wohl zum Reisen und Ausspannen, weniger aber zu angestrengtem Arbeiten aufgelegt ist. In der Regel gibt es bei jedem Kongreß einen Kern von eisrig Hingegebenen, die ihrer Sache regsam und konsequent dienen. Um sie herum aber bewegen sich mit Frau und Töchtern diejenigen, die den Kongreß als verbilligte Reise- und Aufenthaltsgelegenheit benutzen.

Dies ist nun in erhöhtem Maße der Fall, wenn der Kongreß in Genf stattfindet. Ein Kongreß am Genser See ist ein Glückssall für die ihpischen Kongreßlöwen. Und Löwinnen. Zunächst das Internationale. In der Schwerz ist man der freundlichsten Aufnahme sicher, ob man sich auch sonst mit der ganzen Welt überworfen hat. Genf nennt sich selbst auf einem eigens dazu errichteten Denkmal die Stadt der Zuslucht. Macht ein Doch darüber und sie ist ein einziges großes vorurteilssreies Hotel. Und dann der See! Doch darüber ein andermal.

Daß Völkerbundstagungen und Friedens- und ähnliche Kongresse mit Vorliebe in Gens stattfinden, macht einen stutzig. Ale ob die Friedens- und Besriedungsidee nicht die Hauptsache, ja, als ob sie für viele sogar Rebensache, und die Hauptsache ein angenehmer Ferienaufenthalt sei.

Wohl, mit der friedlichen Atmosphäre der Schweiz um sich herum ist man zur Wertschätzung der Seg- nungen des Friedens aufgelegt. Aber denkt an den alten Spruch: Der Hunger treibt den Wolf aus dem Wald

Wer ein Gottesgeschenk im Überfluß und ungestört genießt, spürt weniger den Antrieb, es sich und andern zu fichern, als wenn er es bitter entbehren müßte. Setz Dich vor eine Flasche Wormeldinger Heiligenhäuschen 1921 und laß Dir den köstlichen Tropfen munden, laß ihn Schluck für Schluck mit himmelan gewandtem Antlitz Deine Kehle hinunterrinnen: So bist Du freilich ein besserer Mensch und wünschest allen Menschenbrüdern ein Faß Heiligenhäuschen in den Keller - aber einen Finger dafür rühren tätest Du nicht gern. Gälte es hingegen, den Wein erst zu erschwingen, während Du Deinen Durst mit Essig löschen müßtest, so wärest Du rascher bei Hand.

Und so meine ich, wenn der Völkerbund und sämtliche Friedenslongresse statt am Genfer See in komfortabeln Hotels beispielsweise in den alten, modrigen Unterständen am Hartmannsweiler Kopf tagten, wenn sie sich vor Augen hielten, daß auf diesem von Granaten zerwühltem Boden im Umkreis einer Meile 60 000 Mann hingeschlachtet sind, mehr, als unten im Tal in weitem Umkreis wohnen - so brännte in ihnen die Sehnsucht nach ewigem Frieden viel heißer und mächtiger, als in den capuanischen Gefilden um den Genser See.

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  • Völkerbund - Genf
KatalognummerBW-AK-013-2986