Lesebücher sind etwas ganz Besonderes. Alle Bücher sind da, damit sie gelesen werden und könnten Lesebücher heißen. Aber ein Lesebuch ist das Buch der Bücher. Es ist ein wenig, wie die Bibel. Wenn einem alle Bücher bis auf eines genommen würden, das man behalten, vielleicht in eine Gefängniszelle oder auf eine einsame Insel mitnehmen dürfte, man würde das Lesebuch behalten.
Um ein gutes Lesebuch zu machen, darf einer kein Schuster sein. Er muß Schulmann, und in gewissem Sinn Dichter, darf aber kein Pedant und kein Phantast sein. Er muß Sinn und Schönheit des Lebens sehen, auch wo andere vielleicht keine Schönheit und keinen Sinn erblicken. Er muß praktisch sein und begeisterungsfähig, muß in einer Person haben, was Goethe an sich rühmte: die Lust zu fabulieren und des Lebens ernstes Führen. Er muß einen sicheren Geschmack für Stil haben, dem Schwulst und Bombast abhold sein, begreifen, daß Schönheit Einheit in der Mannigfaltigkeit ist. Ich glaube, wer ein reiches Leben gelebt hat und wem ein Gott gegeben, daß er im Wort mehr sieht, als das mechanische Mittel, seine Gedanken auszudrücken, wem Worte die Schwingen sind, auf denen er sich und die andern über die Welt trägt, ich glaube, den muß auf des Lebens Höhen zuweilen die Lust anwandeln, ein Lesebuch zu schreiben, aus den Schränken seines Wissens und Erlebens, aus seinen Erinnerungen an Genuß, aus seinem Dank für schöne Stunden allerhand seltenen Schatz zusammenzutragen, um damit für die Jungen ein Schatzkästlein zu bauen, an dessen Inhalt sie sich freuen und anregen können. Ein Instrument mit hundert Saiten, worunter jeder geistig Werdende immer die eine findet, die mit seiner tiessten, geheimsten und stärksten Salte zusammenschwingt. Wie oft hat schon einer als Knabe aus seinem Lesebuch den Anstoß empfangen, der ihn in die richtige Bahn und auf die Höhen trieb!
Unser erstes Lesebuch war von dem bewährten alten Schulmann Godart. Dann kam Bone. Bone’s Lesebuch: Die beiden Worte wecken Erinnerungen an die Zeit, wo einem zuerst der Sinn für Klang und Rhythmus der Sprache, für ihre geheimen Aliquottöne aufging, für die malerische Kraft des Ausdrucks, für den Stimmungsgehalt einer Satzfolge. Ich erinnere mich mit allen Sinnen, mit Gesicht, Geruch, Geschmack, mit allen Poren meiner Haut eines Aufsatzes: Es regnet. Bone’s Lesebuch war einem im reiferen Knabenalter eine Zuflucht, eine geistige Wohnstätte, ein Kosmos, wie den kleinen Mädchen ihr Kasten mit „Puppenstücken“.
Eines andern Lesebuches erinnere ich mich mit Dank. Es war der dicke Kehrein, aus dem wir zuerst die Kenntnis der ältesten deutschen Sprachdenkmäler schöpsten und ganze Seiten des Nibelungenliedes im Urtext lasen, abgesehen von dem mit Lust und Liebe zusammengestellten modernen Teil.
In jüngster Zeit hatten sie in den unteren Klassen unserer Gymnasien und sonstigen Mittelschulen den Deutschen Wacker. Ich weiß nicht, ob unsere jüngsten Pennäler zu ihm ein Verhältnis gewonnen haben. Jedenfalls war er ein Nothehelf. Nun erscheinen auf einmal zwei Bände eines neuen Lesebuches für die mittleren Lehranstalten, von Prosessor Dr. Nik. Hein.
Nikolaus Hein hat vor Jahren einen vielversprechenden Band Gedichte veröffentlicht. Dann war es lange still um ihn, bis er jetzt sein schönes Goethebuch herausgab. Darin lernt man ihn kennen als einen besonnenen und begeisterungsfähigen Menschen mit ruhigem, klarem Urteil, und als Schriftsteller, der in der Sprache nicht mit Kikeriki und Flügelschlagen sich auffällig macht, sondern der ein sauberes, klares, trefflicheres und schön ausschwingendes Deutsch schreibt.
Mit all diesen Eigenschaften ausgerüstet war er der richtige Mann, der luxemburger Schuljugend ein Lesebuch zu schenken, wie sie es braucht, ein Buch, das unserer Ideenwelt angepaßt ist und der Heimatkunde Rechnung trägt, und dessen einzelne Stücke mit dem richtigen Sinn für das Stoffliche und für die Form ausgewählt sind. Die neuesten Größen des deuischen Schristtums sind darin mit charakteristischen Proben vertreten, Schönheitssinn und Abenteurergeist, Freude am Geschichtlichen und Besinnlichen, jeder Geschmack und jede Stimmung kommen auf ihre Rechnung. Und bei Lesebüchern, wie bei Zigarren, darf man ja den Preis sagen: 7.75 bezw. 8.75 Franten statt 15 Franken für den Wacker.
Nik. Hein hatte einen glücklichen Gedanken, als er die Initiative zu diesem neuen Lesebuch ergriff.
Wünschen wir, daß die Schulbehörde einen ebenso glücklichen Gedanken hat und das Buch in den Schulen einführt.
Die geistige Nahrung, die es der Jugend bietet, wird wohltätig und dauernd durch Geschlechter nachwirken.