Original

14. Oktober 1925

Wenn Sie eine der stärksten Umstellungen gewisser Dauervisionen erleben wallen, so lesen. Sie den neuen Schinderhannes.

Vor einigen Jahren war hier auf einen Aufsatz im Nassanischen Hauskalender über Johannes Bücher, den berüchtigten Räuberhauptmann hingewiesen. Wir alle sind von Kindheit auf in eine landläufige Vorstellung vom „Schönnergehanes“ hineingewachsen. Ein richtiges Bild von ihm war öffentlich nicht bekannt, man kannte sein Änßeres nur aus Beschreibungen. Jetzt hat Dr. jur. Curt Elwenspoel die erste „kritische Darstellung nach Akten, Dokumenten und Überlieferungen mit zahlreichen Bildern nach zeitgenössischen Originalen“ veröffentlicht (Süddeutsches Verlagshaus, Stuttgart). Vom Titelblatt blickt einen der Schinderhannes an, wie er leibte und lebte, denn das Bild wurde im Mainzer Gefängnis nach dem Leben von einem guten Maler gezeichnet. Und vor diesem Bild vellzieht sich die erste Umkrempelung eines alten Begriffs.

Wie hatten Sie sich den Schinderhannes vorgestellt? Seinem Namen entsprechend sicher als einen rohen Leuteschinder, entweder mit verwildertem Haar, wüster Schnapsphysiognomie oder, noch schlimmer, im öligen Glanz einer anrüchigen Metzgereleganz, mit Stirnlocke, gewichstem Schnurrbart, Verschlagenheit und Grausomkeit, feige oder mutige, in den Zügen.

Nach alledem sah der Schinderhannes nicht aus, und wenn Sie Sinn haben für intime Tragik, so muß Sie der Anblick diesen Bildes tief erschüttern. Es ist das Gesicht eines reinen Intellektuellen, der zum Kreis Goethe, Schiller, Wieland, Herder usw. gehört haben könnte. Oder es könnte ein Dichter sein wie Uhland, ohne das häßliche Kinn, oder ein Gelehrter, Forscher, Pädagoge, Arzt usw. Alles andre, nur kein Räuherhauptmann.

Dann lesen Sie das Buch. Der Sohn eines Abdeckers aus Mühlen bei Nastätten wird in jungen Jahren wegen eines Bubenstreiches in Kirn auf öffentlichem Markt durchgepeitscht und damit zum Feind der Gesellschaft. Dr. Elwenspoek nennt ihn nicht den Räuber. sondern den „rheinischen Rebell“. Seine Auflehnung und seine Popularität mögen zu einem guten Teil auch auf Rechnung der damaligen Franzosenherrschaft am Rhein kammen.

Ader diese und andre Äußerlichkeiten sind es nicht, die aus dem Buch heraus so unentrinnbar nachwirken, sondern es ist der quälende Gedanie, daß hier mit großem Aufwand an Gesetz und Ordnung ein Menschenschicksal verwüstet wurde, das nach andrer Richtung mit Erfolg, Glück, Segen für viele hätte gleichbedeutend werden können.

Die Missetaten des Johannes Bückler und seiner Spießgesellen hätten nicht genügt, aus dem Schinderhannes jene Figur zu machen, die auf eine ganze Zeit abfärbte. Aus dem Buch Dr. Elwenspoeks muß man den Eindruck gewinnen, daß hier eine Persönlichkeit von überragender Stärke unnütz und verderblich vertan ist. Und das ist das Erschütternde. Es heißt immer: Kein Genie verkommt unbekannt, kein großer Dichter hat gelebt, dessen Werke es nicht zur Anerkennung brachten. Und hier fällt einen der quälende Gewissensbiß an, daß die Gesellschaft einen der ihrigen aus dummer Beflissenheit am Aufstieg gehindert und sich selbst die Ruten geflochten hat, mit denen sie von ihm gezüchtigt wurde. In des Schinderhannes Jünglingsphantasie fielen Schlaglichter herüber von den französischen Schlachtfeldern, auf denen ingendliche Wegehälse, wie er einer war, zu Generälen geschlagen werden. Dieser Abdeckersohn, der kaum seinen Namen schreiben konnte, trug sich mit Träumen von Heldentaten und Ruhm, ehe er im Sumpf enger Verhältniesse versank. Und im tiefsten Unglück, eine Spanne weit vom Fallbeil, gibt er das Beispiel einer Geßtheit, um die ihn die ganz Abgeklärten beneiden könnten. Ein Augenzeuge, Weizel, sagt: „Die Ruhe und Fassung dieses Menschen in dem entsetzlichen Momente war erstaunungswürdig. Kein Zug von Wildbeit oder Brutalität entstellte sein Gesicht, er schien ruhig und heiter. Wäre er für eine gute Sache gestorben, man müßte seine kräftige Natur rühmen. Gewiß hätte was tressliches aus dem Menschen werden können. Sein Verhängnis wollte, daß er unter der Hand des Henkers sterben sollte.“

Es gehen viele vor die Hunde, aus denen etwas Treffliches hätte werden können. Sie sollten sich den Schinderhannes zum Schutzpatron wählen.

Das Buch Dr. Elwenspoels ist jedersalls ein Zeitdokument von faszinierendem Reiz.

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KatalognummerBW-AK-013-3006