Original

15. Oktober 1925

Die Zeiten herauf fährt ein Wagen, ein schlichter gelber Kasten mit Schutzdach überm Bock, gezogen von einem müden, knochenspitzen Gaul, den ein schweigsamer Fuhrmann lenkt.

Die Zeiten herauf fährt der gelbe Wagen, unbeirrt. Ihn kömmert es nicht, daß er unter all den fauchenden, schnarchenden, beltenden, muhenden, rasenden Automobilen das einzig bedächtige, langsame, stumme Wesen auf Rädern ist. Er fährt und fährt unbekümmert um das ins Unsinnige gesteigerte Tempo, er fährt die Zeiten herauf und wird die Zeiten wieder hinunter fahren, ein Ahasver auf Rädern. Längst wird alles Pferdegespann der Geschichte angehören, dann wird dieser gelbe Wagen mit seinem müden Gaul noch immerzu durch die Straßen fahren, fünf Kilometer in der Stunde. Von Zeit zu Zeit hebt der schweigsame Fuhrmann die Leine über dem Rücken des Pferdes hoch und läßt sie sanft und nachdracklos niederklatschen, er sagt dabei Hü! wie im Traum, ohne sich etwas dabei zu denken und der Gaul denkt sich erst recht nichts dabei und trollt unbeirrt weiter und es bleibt alles beim alten.

Auf dem Wagen steht eine Inschrift, die ihn als großherzoglich luxemburgischen Postpaketwagen ausweist. Ich bin versucht, so oft ihn ihn sehe, das Lied von der Letzten Rose zu pfeifen. „Deine freundlichen Schwestern - Sind längst schon dahin!“ Aber er macht sich nichts draus. Er ist da, er war da und er wird da sein, allem Fortschritt zum Trotz. Er kommt die Zeiten herauf gefahren wie ein Sinnbild des ruhigen Beharrens, es ist, als hätte ihn die Zeit vergessen, er ist ewig, wie Ahasver.

Wir haben ihn alle lieber, als wir wissen. Wochen, Monate vergehen, ohne daß wir an ihn denken, von ihm reden, ihn auch nur ansehen. Und dann auf einmal fährt er verheißungsvoll durch all unsere Träume. Wir erwarten ein Paket, ein Buch, ein Bild, einen neuen Hut, Gnädigste, einen Pelz, eine Waffe, ein Werkzeug, was weiß ich. Wenn es sehr früh käme, könnte es heute kommen, morgen kommt es wahrscheinlich, es wäre immerhin normal, wenn es morgen schon käme, übermorgen ist es sicher fällig und tags drauf ist es schon überfällig. Nach derselben Skala steigt unsere Sehnsucht nach dem gelben Wagen. Vom Fenster aus sehen wir, wenn er ins Viertel einbiegt, und wir stehen erwartungsvoll. Aber er fährt vorbei. Morgen desgleichen. Übermorgen gehen wir ihm schon entgegen und reden mißgelaunt von Unzuverlässigkeit der Post, wenn das Paket wieder ausbleibt. So die folgenden Tage. Der Mann kennt einen schon und winkt von weitem: Nichts da!

Der Wagen gewinnt mit der Zeit eine ungeheure Bedeutung. Sein Anblick bringt unser ganzes Innere in Schwung. Ich wartete einmal drei Monate lang auf ein Paket, das jeden Tag eintreffen kennte. Seither kann ich keinen Postpaketwagen in der Ferne vorbeifahren sehen ohne tiefe Erregung, ohne daß ein bittersüßer Niederschlag von Sehnsucht in mir aufgestört wird.

Hoffentlich wird der Postpaketwagen noch sehr lange nicht durch ein Auto ersetzt.

TAGS
  • Post-car
KatalognummerBW-AK-013-3007