Original

23. Oktober 1925

Die Deutschen bildeten sich immer Gott weiß was auf ihre Gemütlichkeit ein und darauf, daß das Wort in keine andre Sprache zu übersetzen ist. Aber was hilft ihnen das, wenn die Gemütlichkeit aufhört! Und sie hat aufgehört. Wir lasen heute morgen in der Zeitung:

„Die Behörden im Reich nehmen in Verfügungen an die ihnen untergeordneten Instanzen gegen das Weltbummlerunwesen scharf Stellung. Sie betonen mit Recht, daß bei solchen Personen, die angeblich im Austrag einer Wette aus sportlichen oder Reklamegründen um die Erde wandern wollen und sich die Mittel durch Postkartenverkauf oder Musizieren erwerben, es sich lediglich um eine neue Art von Landstreichertum handelt, dem im Interesse der Ordnung und Sicherheit größte Aufmerksamkeit zu schenken ist. Meistens sind diese Leute nicht im Besitz der polizeilich vorgeschriebenen Papiere. Sammeln von Unterschriften und amtlichen Stempeln zwecks Bestätigung des Aufenthaltes in dem betreffenden Orte birgt die Gefahr in sich, daß damit Ausweispapiere gefälscht werden. Den Behörden wird in der Verfügung empfohlen, die Bescheinigung abzulehnen und sofort Bericht an die vorgesetzte Behörde zu erstatten.“

Sobald sich die Behörden in etwas mischen, ist es zweifellos, daß die Gemütlichkeit aufhört.

Jetzt soll gar das Wandern unter Polizeiaufsicht gestellt werden. Auch eine deutsche Eigenart, sagten sie immer. Der Wandertrieb stand bei den Deutschen stets hoch in Ehren und dichterischer Verklärung. Er war sogar der anerkannte Vater ihres Expansionsdranges, der sie im Mittelalter über die Alpen und in jüngerer Zeit über die Meere trieb.

Das Wandern ist des Müllers Lust! (Es steht frei, Müller als Familiennamen zu fassen und darunter auch alle Schulzen zu verstehen.) Oh Wandern, oh Wandern, du freie Burschenlust! Wanderburschen, Wandervögel! Beim Worte Wandern gingen immer alle Herzen auf. Und jetzt auf einmal richtet sich der grüne Tisch dagegen auf, der grüne Tisch gegen den grünen Wald, und prägt das häßliche Wort „Weltbummlerunwesen“.

Aber mußte es denn nicht dahin kommen, daß der Wanderlust allmählich die ganze Welt als Tätigkeitsgebiet grade groß genug war? Die ganze Welt ist heute nicht größer, als es früher das ganze Deutschland war, vom Bodensee bis an den Belt. Sie ist viel kleiner. Du bist heute um die Welt viel schneller, als früher um Deutschland.

Was Wunder also, daß die Wanderlust ihre Ziele immer weiter steckte und das ganze Erdenrund umarmte. Und nun machen die Behörden dieser Weltwanderlust plötzlich einen Strich durch die Rechnung. Und es muß doch so herrlich sein! Eines Tages sagt man: So, jetzt mag ein andrer Buch halten, Prozesse plädieren, Influenza heilen, Pillen verkaufen, Bier zapfen, Erz schmelzen, Steiße pauken, Abreißkalender schreiben - jetzt gehe ich auf Weltwanderschaft. Alte Burschenlieder klingen auf: Federleicht ist mein Gepäcke - Mir ist alles eins, ob ich Geld hab oder keins - Bald gras’ ich am Neckar, bald gras’ ich am Rhein - man ist erstaunt, wie viele alte Lieder auf den neuen Beruf passen. Und man zieht los, nicht mehr, wie sonst immer, mit der Aussicht auf Rückkehr von derselben Seite her, sondern wenn du beim Neutor hinauswanderst, kommst du über Hesperingen zurück. Wann? Über drei, vier Jahre, vielleicht über zehn, vielleicht gar nicht, vielleicht .... ach, darüber zerbricht man sich den Kopf nicht, wenn einem die Welt offen steht.

Und so wanderst du und wanderst, bis auf einmal die Behörde mit einem Notizbuch, einem Faschinenmesser an der Seite und einem Browning im Gürtel vor dir steht und fragt: Wo sind Ihre Existenzmittel, wo sind Ihre polizeilich vorgeschriebenen Papiere?

Wieder ein schöner Traum zuschanden!

TAGS
  • on rambling in Germany
KatalognummerBW-AK-013-3014