In diesen öden Novembertagen ist Freund Grimmberger mehr als je zum Grübeln und zu paradoxaler Rechthaberei aufgelegt.
„Sehen Sie,“ sagte er gestern, „grade wie es Sünden gibt wider sich und wider die andern, Sünden wider den heiligen Geist und sonstige Größen und Begriffe, so gibt es auch Tugenden, deren Übung entweder den andern oder einem selbst zugute kommt. Die erstgenannten stehen selbstredend am höchsten im Wert. Denn „die andern“ - bitte zwischen Gänsefüßchen - „die andern“ sind immer in der Majorität und bestimmen den Kurs einer Tugend. Was Tausenden profitlich ist, genießt größere Beliebtheit, als was nur für einen Einzelnen Wert hat.“
„Sie vergessen, daß die Gegenseitigkeit das Gleichgewicht herstellt.“
„An die Gegenseitigkeit denkt keiner. Jeder denkt nur, ob das Tun und Lassen aller andern ihm nutzt oder schadet. Daher kommt es, daß Tugenden, wie Sanftmut, Freigebigkeit, Barmherzigkeit, Gastfreundschaft usw., die den andern zugute kommen, so allgemein gepriesen werden. Während dahingegen andere Tugenden, die ein jeder hauptsächlich in Rücksicht auf das eigene Wohl übt, über die Achsel angesehen, ja meist als Laster verschrieen werden, als da sind Geiz, Feigheit ....“
„Sachte, Herr Grimmberger, Sie wollen doch am Ende nicht den Geiz und die Feigheit als Tugenden ausrufen!“
„Warum nicht? Es sind sozusagen Reflexivtugenden, ihre Eigenart liegt in der Rückbeziehung auf die Person dessen, der sie übt. Und wenn Sie die letzten Konsequenzen ziehen wollen, so sehen Sie, daß die Welt bei diesen Tugenden, die sie Laster nennt, letzten Endes viel besser führe, als beim Gegenteil.“
„Wieso?“
„Nehmen Sie an, alle Menschen seien Geizhälse und Feiglinge: So wäre mit einem Schlag jede Kriegsgefahr aus der Welt geschafft und es gäbe keine armen Leute mehr.“
„Da kann mer nix machen.“
„Jawohl, wenn man Sie vor unabweisbare Wahrheiten stellt, ziehen Sie sich mit einem faulen Witz aus der Affäre. Ich nenne Ihnen eine andere Tugend, die mehr zur Beglückung der Menschheit, vielmehr zur Verhütung dauernden Unglücks beiträgt, als alle sogenannten christlichen Tugenden nebst ihren weltlichen Schwestern zusammen: die Gleichgültigkeit, oder nennen wir das Kind beim Namen: die Wurschtigkeit. Freilich, es gehört dazu eine besondere Gebrauchsanweisung.“
„Da bin ich neugierig.“
„Es sollte mich wundern, wenn Sie die Wohltaten der Wurschtigkeit noch nicht am eigenen Leib erfahren hätten.“
„Ich habe darüber noch nicht nachgedacht.“
„Kennen Sie das italienische Sprichwort: Lieber Gott, mach, daß mich meine Frau nicht betrügt! Betrügt sie mich, mach, daß ich es nicht erfahre! Erfahre ich es, mach, daß es mir Wurscht ist!“
„Das scheinen die Italiener aber nicht in die Praxis umzusetzen: Siehe Cavalleria rusticana.“
„Grade an dem Beispiel sehen Sie, wie Unrecht sie haben. Die Wurschtigkeit ist das Wasser im Vitriol der Wissensgier, mit der sich einer Löcher ins Gemüt brennt. Ich erzähle Ihnen einen Fall. Ein Freund von mir plante eine große Spekulation, mit der er Millionen verdienen mußte. Der Coup mißlang, weil ihm andere zuvorkamen. Jemand sagte ihm, sein Freund, mit dem er das Geheimnis teilte, habe durch eine Indiskretion das Mißlingen verschuldet. Der Freund leugnete. Ein Beweis war nicht zu erbringen. Der Mann stand vor dieser quälenden Ungewißheit: Hatte der andre die Felonie begangen oder nicht? Jahrelang tat er, was ich eben sagte, brannte sich mit dem Ätzwasser seiner Wissensgier Löcher ins Gemüt. Bis er die Wurschtigkeit lernte. Heute ist es ihm egal, ob der Freund ihn damals um die Millionen gebracht hat, oder nicht, er hat die Millionen verloren ‚es wäre, sagt er sich heute, zu dumm, dazu auch noch den Freund zu verlieren. Die Tugend der Wurschtigkeit verklärt ihm seinen Lebensabend.“
„Also so meinen Sie das, Herr Grimmberger! Dann allerdings. Dann kann ich Ihnen nur dringend anraten, sich dieser Tugend zu befleißigen.“
„Nun wird der Mensch wieder unverschämt!“ brummte er.