Wir brauchen also an unserm Parlament nicht definitiv zu verzweifeln. Denn es hat sich gezeigt, daß der Humor darin noch eine Stätte hat. Ein Parlament, in dem eine Schuhdebatte, wie die vom vergangenen Mittwoch möglich ist, kann nicht aus bösen Menschen bestehen. Denn bei dieser Debatte hat Humor Gevatter gestanden und diese ganze Revancheschaukelei und Politik des Haust du meinen Juden, hau ich deinen Juden ad absurdum geführt. Und wo Humor gedeiht, können es böse Menschen auf die Dauer nicht aushalten.
Herr Collart hatte außerdem recht: Im Krieg war jede Rechnung eine Verrechnung. Kein Wunder, nachdem der Krieg selbst eine so böse Verrechnung war, daß die ganze Welt noch heute darunter leidet, moralisch und materiell.
Ein wenig Elegie sloß auch in die Stimmung, als der Kriegsschuh auf polternder Sohle durch das Haus stapfte. Du lieber, alter, dicker, verfluchter Kriegsschuh, wir hatten geglaubt, dich auf ewig los zu sein, und nun polterst du wieder grob und ungefüge durch unsern wackeligen Frieden. Bleib draußen, du warst ja ein guter Kerl und treuer Freund in der Not, aber heute brauchen wir dich nicht mehr, wir haben eine Schuhzentrale und haben einen Schuhhof und werden wahrscheinlich bald einen Schuhpalast haben. Du merkst an den Namen den Überfluß, in dem wir schwelgen, also sei so gut, werde nicht bettlerisch aufdringlich. Ja ja, wir wissen noch, die bittern Tage sind uns unvergessen, wo unsere Welt im Zeichen des Leders stand, aktiv und passiv.
Es fing damit an, daß beim Einbruch der Deutschen es tagelang in allen Straßen nach frischem Leder roch. An allen Wagen jankte funkelnagelneu das deftige gelbe Riemenzeug, die Stiefelrohre dröhnten Hurra! Leder war Trumpf. Alle Krieger sagten, daß sie in ihren neuen Stiefeln begraben würden, wenn sie fielen, das sei ihnen das Vaterland schuldig. Drei Wochen später sah ich an der Kirche von Barancy einen Berg nagelneuer Musketierstiefel liegen, deren verschwundene Träger barfuß in französischer Erde sich von den ersten Schlachten des Weltkriegs ausruhten.
Als sei diese Verschwendung in Leder eine Herausforderung an das Schicksal gewesen, wurde kurze Zeit darauf alles gegerbte Tierfell so knapp, daß man eine heimlich erworbene Kalbshaut wie einen Nibelungenhort in sicherem Versteck hegte und sich nicht entschließen konnte, sie zu Schuhen verarbeiten zu lassen. Denn wer wußte, wie es noch kommen würde! Das war die Zeit, wo sich jeder seine Schuhe selber nagelte. Schuhe nageln ist nicht so einfach. Erst haust du dir an der linken Hand die Spitzen von Daumen und Zeigefinger zuschanden, dann erwirbst du einige Übung im Eintreiben des Nagels durch einen einzigen, geschickt geführten Schlag, aber von zehn Nägeln fliegen immer sieben unter deinem energischen Hieb fort und klingend an eine Fensterscheibe oder an die Lampenglocke, daß Frau und Kinder erschreckt auffahren und dein Tun mit ängstlich mißtrauischen Blicken verfolgen.
Wer da behauptet, er habe während des Krieges nicht selber seine Schuhe genagelt und mit Sohlenschonern behaftet, der ist ein ekelhafter Protz.
In jene Zeit fällt auch die bezeichnende Geschichte des alten Familienkoffers. Ein alter Familienkoffer stand eines Tages mit zur Versteigerung im Pôle Nord, im selben Saal, wo heute viermal wöchentlich Paul Walden mit seiner Operettentruppe Lachsalven entfesselt. Von diesem alten Reisekoffer ging die Sage, er bestehe ganz aus bestem englischem Sohlleder. Das Reisen war damals ein Luxus, aber Sohlleder, bestes englisches Sohlleder war ein noch viel größerer Luxus. Der Koffer fand Liebhaber, nicht weil sie ihn auf Reisen benutzen, sondern weil sie sich aus seinem Leib Sohlen für ihre Schuhe schneiden wollten. Sie steigerten drauf los, immer einer den andern herunter, weil sie sicher waren, immer noch ein gutes Geschäft zu machen.
Der Sieger, der den Koffer behielt, war angeschmiert, denn der Koffer bestand in der Hauptsache aus Pappdeckel.
Dieser Sieger ward also seines Sieges nicht froh und wird nie wieder auf einen alten Lederkoffer hineinfallen.
An dem Tage, wo alle Sieger werden eingesehen haben, daß ihr Sieg aus Pappdeckel besteht, wird die Menschheit dem Frieden um einen großen Schritt näher sein.