Daß wir über Rußland eigentlich nichts Zuverlässiges wissen, ist oft gesagt worden. Daß wir aber Zuverlässiges über Rußland wissen möchten, wissen müßten, wird vielleicht weniger oft gesagt, aber allgemein empfunden. Deshalb ist jede Gelegenheit zu ergreifen, die uns Wissenswertes und Zuverlässiges über Rußland vermittelt. Am zuverlässigsten sind die Schriften und Bücher, die heute in Rußland entstehen. Nicht die Zeitungen. Ihre Wahrheit, wenn sie die Wahrheit sagen, steht meist zwischen den Zeilen und ist oft das Gegenteil von dem, was in der Zeitung steht. Man muß es nur wissen. Aber in den Büchern, in denen das junge Rußland seine Seele spiegeln will, finden wir ihr Bild.
Russische Bücher lesen ist nun nicht jedermanns Sache. Aber wenn sie uns in handlichen Stücken und in guter Übersetzung geboten werden, greifen wir zu. Die „Russische Rundschau“ des J. Ladyschnikow Verlags, Berlin W. 50, besteht aus Monatsheften für die neue russische Literatur. Das Heft im Umfang von 80-90 Seiten kostet 2 Mark. Das erste Heft enthält Beiträge von Maxim Gorkij, der also immer noch zu den Jungen zu zählen scheint, von W. Lidin, Ilja Ehrenberg, A. Sobol, J. Babel, L. Leonow, Majakowskij, Tichonow, J. Samiatin, Arthur Luther, S. Liebermann und P. Markow.
Samiatin zum Beispiel plaudert über Literatur, Revolution, Entropie und anderes.
Natürlich ist es interessant, was die jungen Russen über Revolution denken.
Hier steht es:
„Frisch hineingegegriffen: Revolution - was ist das?
Einer wird im Stil Ludwigs XIV. antworten: Revolution - das sind wir. Ein anderer wird korrekt nach dem Kalender Monat und Tag nennen. Noch einer buchstabiert irgend etwas zusammen ... Wenn wir aber vom Buchstabieren zum richtigen Lesen übergehen, so ist es dieses:
Zwei tote, dunkle Sterne stoßen mit unhörbarem, betäubendem Krach aufeinander und entzünden einer neuen Stern. Das ist Revolution! Ein Molekül springt aus der Bahn, dringt in das umliegende atomistische Weltall und gebiert ein neues chemisches Element. Das ist Revolution! Lobatschewskij reißt mit einem einzigen Buch die Mauern der tausendjährigen euklidischen Welt ein, um den Weg in zahllose nichteuklidische Räume freizulegen. Das ist Revolution!
Revolution ist überall und in allem. Sie ist endlos - es gibt keine letzte Revolution, es gibt keine letzte Zahl. Die soziale Revolution ist nur eine der zahllosen Zahlen: das Gesetz der Revolution ist kein soziales Gesetz, es ist unendlich viel mehr, es ist ein universelles Gesetz (universum) - von gleicher Art wie das von der Erhaltung der Energie, der Entwertung der Energie (Entropie). Einst wird auch die Formel für das Gesetz der Revolution gefunden werden. Ihre Zahlengrößen werden sein: Nationen, Klassen, Moleküle, Sterne - und Bücher.
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Brandrot, feurig todbringend ist das Gesetz der Revolution: aber es ist der Tod um eines neuen Lebens, eines neuen Sternes willen. Und kalt, blau wie Eis, wie eisige, interplanetarische Unendlichkeit ist das Gesetz der Entropie. Erst brandrot, wird die Flamme später rosig, gleichmäßig warm, behaglich statt tödlich; die Sonne altert zu einem für Straßen, Kaufhäuser, Federbetten, Huren, Gefängnisse wohlgeeigneten Planeten. Das ist Gesetz. Und um den Planeten wieder in Jugend entbrennen zu lassen, muß man ihn von der sanft fließenden Straße der Evolution stoßen. Das ist Gesetz.
Wenn auch das Feuer morgen oder übermorgen schon verglüht - im Buche des Daseins sind Tage wie Jahre, Jahrhunderte. Einer soll es schon heute sehen und ketzerisch schon heute über das Morgen sprechen. Ketzer sind die einzige, bittere Arznei gegen die Entropie des menschlichen Denkens.“