Original

8. November 1925

Eben war ich Zeuge eines dreifachen Muttermordes. Nicht daß drei Mütter ermordet worden wären, sondern dieselbe Mutter war dreimal Gegenstand des Mordes.

Der englische Maler Whiftler hat von seiner Mutter ein Bild gemalt, das in der Kunstgeschichte eine Rolle spielt und in farbiger und schwarzer Vervielfältigung an zahllosen Wänden hängt.

Durch dieses Bild hat Whistler seine Mutter gemordet. Eines guten Bildes wegen hat er einen Muttermord begangen. Denn er hat seine Mutter so gemalt, daß sie keine Mutter mehr ist, sondern eine langweilige alte Frau. Sie sitzt da als Sinnbild der Ungemütlichkeit. Man könnte darunter schreiben: die Heilige Ungemütlichkeit. Sie sitzt vor einem Hintergrund, von dem die Langeweile breit heruntertrieft. Eine kahle Wand, daran ein Bild mit schmalem, man möchte sagen dünnlippigem Rahmen. Als Abschluß als ein Vorhang, dunkel, schweigsam, nichts vermutend von dem, was hinter ihm stehen oder liegen mag. Die alte Frau, die im Leben die Mutter eines berühmten Malers war und jetzt nur noch eine kalte alte Frau ist, sitzt auf einem Stuhl, parallel zur Wand, und starrt in der Richtung des Vorhangs. Ihr Kleid fließt an ihr herunter wie ein Bahrtuch. Ihr Spitzenhäubchen läßt beiderseitig die langen Flügel tief herunterhängen, die blutlosen Hände liegen ihr im Schoß wie welke Lilien und bilden zusammen mit einem Spitzentüchlein einen hellen Fleck, der geometrisch genau die Mitte des Bildes markiert. Das alles ist in einen müden Ton getaucht, der es mürrisch ablehnt, als bestimmte Farbe gewertet zu verden. Und die Frau sitzt buchstäblich da, wie ein von der Stelle gerückter Schrank.

So hat Whistler seine Mutter gemalt, ohne Spur von Mütterlichkeit, als alte Frau, die den Eindruck nacht, daß sie jede Anspielung auf Mutterschaft als shoking empfinden würde.

Auf diesen Muttermord hat dann irgendein Schuster einen zweiten, noch schlimmeren, an derselben Frau gepfropft. Er hat das Bild anonym vervielfältigen lassen und darüber „Maman“ in großen Lettern, darunter in kleineren Lettern einen Merkspruch drucken lassen, der einen Massenmuttereder vielmehr einen Muttermassenmord bedeutet. Darin sind alle Plattheiten und Sentimentalitäten, die das letzte Jahrhundert über die Mütter hervorgebracht hat, feierlich zusammengestellt, mit einer Träne im Augenwinkel und verschämtem Nasenschnauben.

Dritter Muttermord, wiederum an derselben Frau: Den hat jemand verbrochen, dessen Name unleserlich geschrieben ist. Er hat von dem Whistler’schen Bild einen fabrigen Holzschnitt hergestellt. Darauf ist der Kopf der alten Frau unvermittelt, wie eine Oblate, an die Wand geklebt. Das ist noch das Wenigste. Aber der Mund! Vom Munde aus hat dieser farbige Helzschnitter die Mutter Whistler gemordet. Um eines Haares Breite hat er gegen das Original die Mundwinkel tiefer gezogen und dadurch den Ausdruck verbrecherisch alteriert. Dies ist der Mund einer bösen Spitzmaus, du kannst dir unmöglich vorstellen, daß eine Frau mit solchem Mund eine Mutter sein, etwas Liebes und Gütiges sagen kann. So muß ein niegeküßter Mund aussehen. Eine Giftspritze, aber kein Muttermund.

Traduttore traditore!

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    Katalognummer BW-AK-013-3027