Heute morgen begegnete mir ein Glaser. Er trug prosaisch und senkrecht eine große Fensterscheibe unterm Arm. Er war kein richtiger Glaser. Sonst hätte er eine hohe Kiepe auf dem Rücken getragen und er hätte nicht Glaser, sondern Fenstermacher geheißen.
In der Benennung unsrer alten Handwerker gehen wir aufs Ganze. Unsre Großväter nannten den Friseur noch „Parreckemecher“, Perückenmacher. Der Mann, der Hüte verkauft, war ihnen der „Kaapemecher“, erst später wurde daraus der „Hiddemecher“, als allmählich die Mütze durch den Hut verdrängt wurde. Und der Inhaber eines Zigarrenladens hieß noch vor einem Menschenalter bei den alten Leuten „Tubakspenner“, weil er den Rolltabak spann, den der Mann im Volk rauchte, den kräftigen Strolles, den er in die hohle Linke mit dem kurzen Messer schnitt und zwischen beiden Handflächen zerkrümelte, wenn er nicht ein größeres Quantum auf Vorrat daheim auf dem Waschbleuel absägte und in einem Milchtopf verwahrte.
Wie diese Bezeichnungen auf die Urbeschäftigung zurückgingen, auf die Zeit, wo der Handwerker sein Produkt als Ganzes von unten herauf herstellen mußte, so erinnert der Fenstermacher auch an die Epoche, wo die Herstellung des Fensters in der Hand eines einzigen Mannes lag. Die Arbeitsteilung zwischen Bauschreiner und Glaser hat wohl immer bestanden, aber der Arbeitsanteil des Glasers war ungleich stärker in einer Zeit, wo die Bleifassung der Scheiben und Scheibchen noch nicht durch die Holzrahmung verdrängt war.
Indes so weit reicht zum Glück unsre persönliche Erinnerung nicht hinauf. Aber den Fenstermacher mit der hohen Kiepe auf dem Rücken sahen die Älteren von uns noch durch die Dörfer gehen. Nach unten war die Kiepe durch eine Art Trog abgeschlossen, darin lag, was uns Buben am meisten interessierte: der Fensterkitt, Mastic genannt. Wer einen Klumpen Mastic besaß, besaß einen Schatz. Man konnte daraus eine ganze Schöpfung kneten, Menschen, Tiere, Häuser, Bäume. Und er roch so scharf, ein wenig bitter, ein wenig säuerlich. Ich komme mir vor, als sei ich neun Jahre alt, wenn ich den Geruch des Fensterkitts in der Erinnerung durch die Nase ziehe. Und die hellgraue Masse faßte sich so ganz eigen an, so schwer und so schmiegsam, glatt und klebrig zugleich, und hatte man daraus einen Gegenstand geformt, so legte sich im Nu ein seidiger Glanz über die Fläche. Aber auch ohne alle diese Zweckdienlichkeiten steht allen Buben der Sinn nach Fensterkitt, wie er ihnen nach jeglichem Ding steht, das nicht tagtäglich im Bereich ihrer Hände liegt. Denn nicht wahr, einem Bub von neun Jahren stehen Welt und Zukunft weit weit offen, und wer weiß, wo man in der Welt und in der Zukunft nicht, noch einen Klumpen Mastic, eine rostige Schraubenmutter, einen Hufnagel, einen Knäuel Bindfaden und einen toten Maulwurf gebrauchen kann?
Der Fenstermacher war uns eigentlich eine tragikomische Figur. Mit einem Steinwurf hätten wir ihm sämtliches Glas, das er in seiner Kiepe trug, zertrümmern können, und das wäre dann sowohl komisch - für uns - wie tragisch - für ihn - gewesen. Zuletzt aber auch tragisch für uns, wenn die Stunde der Abrechnung gekommen wäre.
Glas ist für eine Bubenpsyche überhaupt eine geheimnisvoll seltsame Sache. Alles läßt sich formen mit einem Werkzeug, das in den Umkreis der alltäglichen mechanischen Möglichkeiten gehört, nur für das Glas braucht der Fenstermacher einen Diamant, über dessen Kostbarkeit phantastische Vorstellungen bei uns herrschten. Und dann: Da baute man Häuser aus Stein und Holz und Eisen, mit dicken Türen aus Eichenbohlen und Schlössern daran gegen Räuber und Einbrecher. Und daneben Glasfenster, die mit einem einfachen Druck des Fingers zu zertrümmern waren. Und hinter den Fenstern konnte man sitzen und die Welt betrachten und von außen spiegelte sich im selben Fenster die Welt, ohne daß man es darinnen sehen konnte.
Das Leben war voll von Rätseln.