Original

18. November 1925

Der heilige Sankt Nikolaus ist unterwegs mit seinem Eselchen und wirft seinen Schatten voraus in die Stuben, in denen die Kleinen brav zu sein trachten, damit er nicht mit leeren Händen an ihrer Haustüre vorbeizieht. Rührende Briefe kommen von nah und fern an den guten Heiligen, meist praktischerweise unter der Deckadresse der Firma Sternberg, von wo der kinderliebe Bischof am bequemsten seine Gaben versenden kann.

Der heilige Nikolaus mit seinem Fest für die Kinder war immer ein billiger Vorwand zur Rührung für die Erwachsenen. Es ist ja wahr, daß die Armut nie so weh empfunden wird, als wenn vom Überfluß verteilt wird und sie nicht dabei ist. Es werden weniger Tränen vergossen über ein Kind, das kein Brot zu essen, als über eines, das keinen Nikläschen bekommen hat.

Die Post bringt Ihnen in diesen Tagen die Aufforderung zur Beisteuer zum Nikolausbescherungswerk für arme Schulkinder.

Geben Sie, geben Sie reichlich. Helfen Sie, den Kindern Freude machen. Freude muß alle Krankheiten der Menschheit heilen. Aus frohen Kindern werden selten unzufriedene Menschen. Freude ist die Sonne, die Gesundheit der Seele. Die Bleichen, die Unfrohen, die Wiegler und Wühler wachsen im Schatten.

Was sollen wir beisteuern, Geld oder Naturalien? Mit gebrauchtem Spielzeug ist das so eine Sache. Gebrauchtes Spielzeug ist wie verwitwet. Und es ist nicht jedermanns Sache, an eine Witwe oder einen Witwer sein Herz zu hängen. Kinder sind fast immer von krankhafter Feinfühligkeit. Ein Spielzeug, das vor ihnen schon andern gehörte, hat nichts von dem Zauber, von der himmlischen Unmittelbarkeit, von dem ganz Persönlichen eines Geschenks, das ihnen der heilige Sankt Nikolaus eigens bestimmt und gebracht hat. So einem Geschenk muß eine ganz besondere Abfichtlichkeit anhaften, der Beschenkte tritt dadurch in direkte persönliche Beziehung zu der Stelle, die solches für ihn übrig hatte, der er also etwas bedeuten muß. Er fühlt sich gehoben, in seiner Persönlichkeit erweitert. Bekommt er aber ein Geschenk aus zweiter Hand, so verliert es für ihn alle diese beziehungsvolle Bedeutung und hat für ihn höchstens den nackten Gebrauchswert.

Somit wäre es ratsam, dem Nikolausbescherungswerk vorwiegend Bargeld zuzuwenden. Die Aufgabe der Mitglieder wird dadurch nicht leichter. Der Zweck ist ja, alle Kinder glücklich zu machen. Und wie leicht ist es geschehen, daß dies und jenes unglücklich, obgleich reich beschenkt, von dannen geht! Jedes vergleicht seine Bescherung mit denen der andern und wie viele finden sich zurückgesetzt! Mit den kleinen Mädchen ist es wohl nicht so schlimm, die preisen ihre Sachen, und wäre es auch nur, damit sie den Neid der andern erregen. Aber die Jungens! In jedem von ihnen regt sich ein kleiner Napoleon, der empfindet, ihm gehöre die Welt, angefangen bei dem Hampelmann und dem Stück Lebkuchen des Nebenmannes. So viel auch jeder hat, er findet, der Nachbar habe mehr bekommen, und flugs regt sich in ihm der Bolschewik.

Sie sehen, mit dem Geldbeschaffen ist es nicht getan, es gehören dazu geschickte Hände, und es gehört dazu vor allen Dingen die Liebe zu den Kindern, zumal zu den Kindern der Armen.

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    Katalognummer BW-AK-013-3035