„Nichts zu schleisen, Herrchen?“ redete mich heute morgen am Gartentor die Scherenschleifersfrau an.
Zunächst gab mir das Diminutiv zu denken. Es ist auffällig, wie sich das Volk gegen die Anrede „Herr“ sperrt. Es sagt in der besten Abficht: „Herrchen, Meister, Pätter,“ aber nie Herr. Ist das in seiner Auffassung schon zu einer Art Beleidigung geworden? Unter Umständen drückt man mit der Anrede „Herr“ tatsächlich nichts weniger, als Hochachtung und Entgegenkommen aus. Aber ich stehe mit der Scherenschleifersfrau wirklich nicht so, daß sie mich nicht ohne jede unangenehme Nebenbedeutung Herr nennen könnte. Oder herrscht im Volk die stillschweigende Übereinkunft, daß mit „Herr“ nur der Herr Pastor, der „Herr“ tout court gemeint sein soll? Oder sind wir im Demokratischen so weit, daß man keinen Herrn über sich anerkennen will und deshalb daraus ein Herrchen macht? „Bildet Euch nichts darauf ein, daß man Euch Herr nennt,“ sagte mein Freund Picard von Kirchberg. „Ich bin auch ein Herr, auf jeder gemeinen Postkarte, die ich bekomme, steht Herr Picard.“
Auf die Frage der Frau, ob nichts zu schleifen sei, war ich auf Anhieb versucht, wegwerfend nein zu sagen. Das nein sollte bedeuten: „Meine lieben Scherenschleifersleute, was fällt Euch ein, wir arbeiten doch nicht mit einer so veralteten und ärmlichen Einrichtung, wie Ihr sie kümmerlich im zwanzigsten Jahrhundert fristet, wir lassen alles bei Moitzheim schleifen, Ihr seid uns viel zu gering!“
Aber ich hatte mich rasch eines Besseren besonnen. Im Handumdrehen wurde die Scherenschleifersfrau mir zu einer sympathischen Erscheinung, zur Trägerin einer volktümlichen Überlieferung, zu einer Priesterin des Folklore. Und mir fiel ein, daß ich gestern vergebens versucht hatte, mit meinem stumpfen Federmesser einen Bleistift zu spitzen. Ich griff in die Tasche und übergab der Frau vertrauensvoll das besagte Instrument.
Warum, frage ich, nähren wir solche Abneigung gegen die alten Gewerbe, die im Herumziehen ausgeübt werden, gegen die Scherenschleiser, die Regenschirmflicker, die Hausierer, diese lebenden Gazetten? Wir sollten sie im Gegenteil unterstützen, wäre es auch nur, um der Hypermechanisierung der Zeit in ein paar Einzelheiten zu widerstehen, um die Vergangenheit in ein paar eigenartigen Traditionen fortleben zu lassen. Wir machen Gesetze, um einen alten Turm, einen Mauerstumpf, eine geschnitzte Türe zu erhalten, warum sollen wir Menschen, die in sich ein Stück Vergangenheit lebendig erhalten, nicht auch gegen die allgemeine, stumpfsinnige Einebnung in Schutz nehmen? Es müßte uns ein wohltuender Anblick sein, wenn irgendwo an der Straßenecke ein Scherenschleifer sein Rad dreht. Und warum sollen wir, statt mit gerümpfter Nase an dem Mann vorbeizugehen, nicht stehen bleiben und uns an seiner Handfertigkeit freuen, zusehen, wie das Feuerwerk der weißglühenden Stahlfünkchen der singenden Messerschärfe entspritzt, ein Gespräch anfangen über das Nähere und Weitere? Wer weiß, vielleicht hat der Mann ganz gesunde Ideen über die französische Finanzpolitik, über Amundsens Nordpolexpedition, über den Modus vivendi, über Dackelzucht und Frauenpsyche. Man wundert sich oft, daß man so schlecht über die Seele des Volks Bescheid weiß. Man spricht eben zu wenig mit dem Scherenschleifer an der Straßenecke.
P. S. - O weh o weh, ich bin mit meiner Scherenschleisersfrau, wie ich nachträglich höre, arg hereingesallen. Johanna ging und niemals kehrte sie wieder!