Jeder findet im späteren Alter, daß in seiner Kindheit viel mehr Schnee gefallen ist. Es gibt sogar schon Leute, die vom Schnee als einer Vorkriegserscheinnug reden, die heute nur noch vereinzelt auftrete, etwa wie Goldgeld oder Caviar.
In Wirklichkeit ist es damit doch wohl nicht anders geworden - mit dem Schnee, meine ich. Der fällt immer noch, wie ihn das Jahr bringt, und wenn einer meint, seine Kinderjahre seien daran reicher gewesen, so liegt das daran, daß er sich aus seinen Kinderjahren eben nur der großen Schneefälle, nicht aber der schneelosen Winter eriunert.
Die weiße Decke, die heute über Stadt und Land gebreitet liegt, scheint dauerhaften Gewebes zu sein. Der West hat sie gebracht, der Nordost will sie bewahren. Wer am Schnee Freude hat, wird sich freuen.
Nicht jeder freut sich des Schnees. Vor undenklichen Zeiten gehörte er organisch in die Weltordnung. Wenn der Schnee fiel schlief die Natur, und mit ihr schlief der Mensch. Jedenfalls beschränkte sich seine Tätigkeit auf das Notwendigste.
Heutzutage ist das anders geworden. Die Natur schläft immer noch von November bis März, rund fünf Monate. Manchmal legt sie sich ein paar Wochen früher zur Ruhe oder schlägt ein paar Wochen früher die Augen auf, aber in der Regel schläft sie fünf Monate von zwölf. Macht also fünf Zwölftel. Hier sei eine kleine Klammer eröffnet. Wenn wir noch so nahe an der Natur wären, wie wir eigentlich sollten, müßten wir sie auch im Schlaf zum Vorbild nehmen und demgemäß von vierundzwanzig Stunden immer zehn verschlafen. Wer also um Mitternacht zu Bett ginge, dürfte vor zehn Uhr vormittags nicht aufstehen.
Aber weil wir einander nicht mehr trauen, halten wir uns eben nicht mehr an das Varbild der Natur weder im Tages- noch im Jahresschlaf. Statt im November mit ihr zur Ruhe zu gehen und den Hochofen unseres Tagewerts zu stopfen bis im Frühjahr, arbeiten wir den ganzen Winter über mit Hochdruck, richtig wie einer, der von rechtswegen schlafen sollte und sich durch fieberhaftes Gemurkse wach halten will. In der Politik wie im Gesellschafts- und Erwerbs leben schnurren die Räder mit der höchsten Tourenzahl, und träte an Weihnachten nicht eine Kunstpause ein so flöge ganz sicher die ganze Bude in die Luft.
Wer diesen Gegensatz zwischen der Aufgepeitschtheit der Wintersaison und der natürlich vorgezeichneten Schlafenszeit noch empfindet, der empfindet entweder den Schnee als einen lästigen Eindringling oder die Menschheit als eine indiskrete Bummlerbande, die im Schlafzimmer ihrer Mutter Natur foxtrottet und randaliert, statt zu warten, bis sie sie in ihren Festsaal zum Bankett lädt.
Und willst du wissen, um wieviel schöner es im Festsaal, als im weißverhängten Schlafzimmer ist, so erinnere dich deiner Ferienzeit, denke, wie es war an dem blauen Alpsee, in den burgundischen Rebgärten, auf dem weichen Sandgestade von Ostende, in den abgrundtiefen Tälern des Jura mit den grünen Strömen, .... was mag der schweizer Zöllner jetzt schaffen in seinem einsamen Häuschen an dem schläsrigen Stauwasser des Doubs, was machen oben an der Grenzscheide die zwei noch einsameren französtschen Douaniers in ihrer Holzbude, die jetzt wohl dachüber eingeschneit ist - wie sieht es heute auf dem Genser See aus, den du im Braus und Blitz und Krach von fünf Gewittern durchpflügtest, wie einen Silberacker, wie an dem lieblichen See von Neuchatel, auf dem Bergpaß, von dem aus man die Alpen wie ewig unbewegte Sonnenwolken liegen sieht, wie an all den schattigen Bachufern, an denen Ihr Euch zu Trunk und Atzung hingestreckt, wie in den gastlichen Häusern in Nord und Süd und auf den besonnten Terrassen, wo sich die Sommergäste drängten? Wäre es nicht ein elegischer Genuß, bei allen jetzt in Schnee und Sturm herumfahren zu können und wie Hühner auf der Stange zu sitzen und Klagelieder auf den Verlust der Soune zu glucken?