Original

4. Dezember 1925

Im fahlen Frühnachmittagslicht des Schneetages gingen sie an den Gartengittern her.

Sie sind wie die Würmer, die nur in Rinde und Splint heimisch sind und nicht in das Herz des Baumes vordringen. s

Der eine war klein und blaß und trug einen alten Flügelmantel, dessen vordere Zipfel er straff über der Brust gekreuzt festhielt. Sein schwarzer, harter Hut war weiter nach vorn und in die Stirn gerückt als es einem normalen Sitz entsprochen hätte. Das Gesicht war nicht nur blaß, sondern mißsarben. Es war das alte Gesicht eines jungen Menschen. Was lag nicht alles darin? Übernächtigkeit, Hunger, Schläue, Haß, Heimtücke, Stolz, Hochmut, Feigheit, Verschlagenheit. Es war ein unheimliches Gesicht. Die Lider bedeckten die Augäpsel bis auf einen schmalen Schlitz, durch den der junge Mann seine Blicke auf das verschneite Trottoir geheftet hielt, während ich vorbei ging und ihn ins Auge faßte. Müßte ich den Eindruck in ein Wort fassen, ich würde sagen: Grau. Denn etwas Graues, Gräuliches, Grauenhaftes strahlte der Mensch aus. Und der nächste Gedanke ist: Galgen.

Neben ihm ging ein andrer. Er war jung und sah so aus. Er hatte ein hübsches, rundes, bräunliches Gesicht, in dem ein zarter Bartflaum sproßte. Seine schwarzbraunen Augen waren gradeaus gerichtet, mit dem Ausdruck des arglosen Tieres, das niemand für seine Missetaten moralisch verantwortlich macht. An seinem Anzug fiel mir auf, daß die Hosen zu lang und die Schuhe arg ausgetreten waren.

Sie gingen vorbei, als kämen sie von nirgends her und gingen nirgends hin, sondern immer nur vor sich aufs Geratewohl, wie der Fuchs durch den Schnee schnürt, nur damit sie nicht stehen bleiben, denn wenn sie stehen bleiben, fallen sie auf, und fallen sie auf, so sind sie verloren.

Von Zeit zu Zeit begegnet man ihnen auf den Straßen, die den Stadtbering gürten. Immer ist einer der Schieber, der andre der Geschobene, einer der Kopf, der andre die Hand. Wer weiß, wie sie sich zusammenfanden? In der Herberge, der Kaschemme, auf einem nächtlichen Raubzug? Und sie bleiben beieinander, wie Bogen und Pfeil. Bis sie unversehens in eine Lache des Unheils treten und ihre Vogelfreiheit gegen einige Jahre Kerkerluft vertauschen. Sie sind die Sandkörner im geölten Getrieb der Menschheitsmaschine, sie werden zerrieben, nachdem sie die Maschine lang genug zum Knirschen gebracht haben.

Ihr Revier ist die Peripherie der Stadt. Sie schlagen sich vom Bahnhof her, wenn sie mit dem Zug kamen, in die Seitentälchen des Verkehrs, bis sie ins Freie gelangen, wo sie nicht auf Schritt und Tritt einem Polizisten in die Hände laufen. Sie wissen, da draußen wohnen gute Menschen, die bösen Menschen stehen drinnen an den Straßenkreuzungen und haben eine weißlackierte Keule in der Hand und organisieren die Verkehrsstockungen, damit es nach Großstadt aussieht. Solchen begegnet man da draußen nicht, da kann man ungefährdet Luft schöpfen, auch wenn man nur falsche Papiere oder gar keine in der Brusttasche hat. Und sollte einmal ein Häscher in Zivil die exzentrischen Straßen unsicher machen, den kennt man unter allen heraus, wie einen Offizier oder Pfarrer in Zivil, und geht ihm vorsichtig aus dem Weg.

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    Katalognummer BW-AK-013-3049