Es passiert Ihnen zuweilen, daß jemand Sie auf der Straße stellt und fragt, wieviel Uhr es sei.
Geschieht das des Nachts um zwei Uhr, mitten auf der Passerelle, so gibt die Frage Ihnen zu denken und Sie fühlen sich schwerlich bemüßigt, den goldnen Chronomeier zu ziehen, den Ihnen der Verwaltungsrat zum Dienstjubiläum geschenkt hat.
Es kann auch harmloser verlaufen. Gestern kam ein junges Mädchen um die Ecke auf mich zugestürmt, atemlos, im hübschen Gesicht einen Ausdruck von Angst und Gespanntheit.
„Ist es schon halb zwei?“ stieß sie hervor.
Es regnete. Ich hatte mich fest in Rock und Überrock eingeknöpft, die Hände tief in den Taschen vergraben, den Kragen hoch, die Hutkrempe ins Gesicht gezogen.
Trotzdem blieb ich stehen, knöpfte Überrock und Rock auf, zog die Uhr und war in der angenehmen Lage, das schöne Kind durch die Mitteilung zu beruhigen, daß es erst siebzehn Minuten nach eins war.
Sie dankte mir - nicht errötend, denn roter konnte sie nicht mehr werden - und lief in reduziertem Tempo weiter.
Weshalb ich Ihnen dies erzähle?
Weil ich einen Vergleich anstellen wollte zwischen der früheren und der heutigen Art, die Uhr zu tragen.
Seit dem Krieg, in dem die Offiziere der Alliierten sowohl wie der Westmächte mit dem Beispiel vorangingen, trägt die jüngere Generation fast ausnahmslos die Uhr am linken Handgelenk.
Vor dem Krieg war das Männerarmband verpönt und galt vielen als Aushängeschild übler Sitten. Der Krieg hat das Uhrarmband geadelt. Wie oft wurde uns geschildert, wie der Offizier im Morgengrauen die Minuten, dann die Sekunden auf seiner Armbanduhr zählt, bis er aus dem Schützengraben vorbrechen und mit seinen Leuten in den Tod stürmen wird.
Bequemer ist das Armband immerhin. Statt nach der Uhr in der Tasche herumzusummeln, stößt man einfach den linken Arm vor und führt ihn in die Beuge zurück: Ganz genau 1 Uhr 32, gnädiges Fräulein. Aber wollen Sie nicht noch ein Viertelstündchen ...?
Die Uhrkette hatte freilich auch ihre Schönheiten und ihre Poesie. Mit der ersten Uhr bekam man die stählerne Uhrkette, die an einer Querspindel in einem Westenknopfloch festhing. Aber in welchem Westenknopfloch? Das war ebenso wichtig, wie die Spazierstocktracht. Sollte man den Stock an der Krücke, in der Mitte oder an der Spitze fassen? Sollte man ihn horizontal, vertikal oder in welchem Winkel sollte man ihn tragen, um als Lebemann in die Erscheinung zu treten? Und die Uhrkette? Sollte sie im oberen, mittleren oder unteren Knöpfloch verankert werden, oder aber in welcher Zwischenlage?
Und die Form der Kette erst! Sie war noch vielfältiger, als die Hut- und Schuhformen, mit denen man der Mode gerecht werden wollte. Und nicht nur die Kette kam in Betracht, da waren die mancherlei Anhängsel, mit denen Eindruck zu machen war, vom Miniaturtotenkopf bis zum Talisman in Gestalt einer roten Rübe. Und das Material! Wie mancher hatte zuhaus die kostbarste goldne Uhrkette in der Nachttischschublade liegen und befestigte seine Uhr an einem Lederbändchen! Man betonte damit besonders den Wert der Uhr, die man richtig stark und zuverlässig festmachte, nicht an einem schwachen goldnen Filigrankettchen, nicht an einer schweren, protzigen Kette, die eine Herausforderung für die Taschendiebe war, sondern an dem klassischen Lederriemen. Es war so männlich!
Andre trugen Uhrketten, die aus den Haaren eines geliebten Wesens geflochten waren. Folgerichtig hätten sie als Berlocke daran einen Zahn der oder des Toten tragen müssen.
Es ließe sich noch allerlei sagen über die Rolle, die die alten Uhrbefestigungsmittel in der Männertoilette spielten, welchen Wandlungen sie unterworfen waren, wie mancher sich sozusagen nackt vorkam, wenn er keine Uhrkette, keinen Bierzipfel vorn herunterbaumeln hatte. Es genüge, noch kurz nur auf die sozialpolitische Rolle der Uhrkette hinzuweisen. Wir alle erinnern uns noch der Zeit, wo der Kapitalist den Massen an die Wand gemalt wurde als ein Mann, der nur Kaviar aß, nur Champagner trank und über seinen Wanst eine dicke goldne Uhrkette gespannt hatte.
Mit dieser Legende wenigstens wird das Uhrarmband aufräumen.