Alles zu seiner Zeit.
Kirschen um Weihnachten, Austern im Juli - mögen gut schmecken, aber sind keine Stimmungsmacher.
Wir hatten jetzt bei Wintersanfang die ganze Prachtentfaltung mit Frost und Tauwetter. Der Frost war ein ausgewachsener, so wie er sonst nur nach der Weihnachtssonnenwende einzufallen pflegt. Tadellos die ganze Organisation, eingefrorene Wasserleitungen und Zentralheizungen, erstarrte Vögel, krachend gespaltene Bäume, Eis im Schnurrbart, frostverklebte Naslöcher, klamme Finger, Raben durch die Luft mit dünnem Dunstschweif, den ihre Lebenswärme in die Eiseskälte zieht - alles da.
Dann kam das Tauwetter, wie im Lied vom braven Mann .... Die Wolken flogen vor ihm her, wie wenn der Wolf die Herde scheucht. Der Leib der Erde wurde wie der Leib eines Kranken, bei dem das Fieber gebrochen ist und aus dessen Poren der wohltätige Schweiß ausbricht, daß es ihn überrieselt vom Scheitel bis zur Sohle: So rieselt es über den Leib der Erde in Millionen von Rinnsälchen, da das Frostfieber gebrochen ist.
Tauwetter ist Losung und Erlösung. Diesmal war es nichts dergleichen. Wir sahen das Wunder der Erlösung und blieben ungläubig. Denn wir wußten: Der milde Wind, unter dem das Eis schmolz, ist noch nicht der Künder des Frühlings. Wir wußten: Es wird noch lange Winter bleiben, wieder werden die Leitungen und Heizungen einfrieren und werden sich die Hausfrauen verzweifelt an die Bubiköpfe fassen und ihre Männer schimpfen, weil sie das Wasser nicht hatten ablaufen lassen, wieder werden Vögel erstarrt von den Telegraphenstangen fallen, wieder wird es im Forst krachen von geborstenen Baumstämmen, wieder wird uns der Frost die Naslöcher verkleben, wieder werden die Raben ihren Dunstschweif durch die eiskalte Luft ziehen und wieder werden wir schnatternd und mit klammen Fingern einhergehen und sagen, heute sei der kälteste Tag im Jahr. Und Schnee wird siegen über Weihnachten, und an Fastnacht werden die kleinen Dominos in ihren dünnen Flitterkostümchen frieren, daß sie sich schuck schuck an dich drücken müssen, um warm zu werden.
Bis eines späten Februar- oder frühen Märztages vom Johannisberg und Zolverknapp herüber die linden Lüfte wehen, die das Frostfieber brechen. Millionen plaudernder Rinnsälchen werden wieder über den erlösten Leib der Erde rieseln.
Aber dann werden wir uns mit gutem Gewissen des Tauwetters freuen können. Denn dann wissen wir: Es wird Frühling. Crocus und Schneeglöckchen erwarten ihre Stunde, die Sonne ist auf dem Weg zu uns, diesmal ist die Erlösung in Wahrheit gekommen.
Damals, als es zuerst gefroren und getaut hatte. da war es noch nicht die Erlösung, da war es noch nicht der Friede.
Da war es Versailles.
Jetzt ist es Locarno.
Freilich, es hat auch manchmal im April noch gefroren.