Der rührige Verein für Volks- und Schulhygiene reitet eine große Attacke gegen die Geschlechtskrankheiten. Heute, am Vorabend, reden im Chemiesaal des Athenäums der Vorsitzende Herr Dr. Krombach in „Gedankensplittern über gesunde Sexualpädagogit“ und Herr Dr. Franz Demuth über die Organisation des Kampfes gegen die Geschlechtskrankheiten in unserm Ländchen, morgen nachmittag 5 Uhr hält im Festsaal des Athenäums Herr Schraenen aus Brüssel, Generalsekretär der belgischen Liga gegen die Geschlechtskrankheiten, einen Vortrag über dasselbe Thema mit Lichtbildern.
Man darf, wenn solche Fachleute die Sache in die Hand nehmen, mit Bestimmtheit darauf rechnen, daß die Aktion eine praktische und zweckmäßige sein wird.
Bis jetzt war ein großer Teil der Propaganda im Kampf gegen die Krankheiten, die ihren Namen von der Göttin Venus ableiten, eitel Pharisäertum oder Geschäft. In letzterem Betracht nicht besser, als die Wachsfigurenkabinette auf der Schobermeß.
Wer gegen eine Krantheit kämpfen will, muß auf Vorbeugung und Heilung, nicht lediglich auf Verekelung ausgehen.
Die öffentliche Propaganda im Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten wie gegen jede soziale Krankheit überhaupt kann sich nur auf die Vorbeugung spezialisieren. Die Heilung ist Sache der Ärzte und Forscher und kann nicht in öffentlichen Vorträgen mit oder ohne Lichtbilder betrieben werden. Vorträge können in dieser Richtung nur das eine bezwecken, daß sie den Kranken auf den Arzt so eindringlich wie möglich verweisen. Dies geschieht leider nicht immer, nicht oft und nicht eindringlich genug.
In betreff der Vorbeugung ist es mit dem abschreckenden Beispiel nicht getan. Die Menschen an der Liebe verekeln durch Herausarbeiten der übeln Folgen eines Hereinsalls, das ist kein gutes Werk. Entweder wird die Liebe schließlich doch des Ekels Herr und die „außerehelichen Pflichten“ werden nach wie vor erfüllt, oder der junge Mann sorgt für einen Ersatz, über dessen schlimme, wenn auch nur individuelle Auswirkung einstweilen noch keine Vorträge mit Lichtbildern gehalten werden.
Es ist wirklich zu billig, mit solchem abschreckendem Bildermaterial und nur damit hausieren zu gehen. Man sieht die Kokten und Bazillen im Organismus den Aufmarsch nach allen Regeln der Strategie vollziehen, genau wie 1914, man entsetzt sich über seuchezerfressene Glieder und Gesichter, und was ist damit im sogenannten „Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten“ erreicht? Auf die Dauer gar nichts. Nur daß vielleicht einer, der noch zu heilen gewesen wäre, es mit der Verzweiflung bekommt und sich Blei in die Schläfe pumpt, oder sich bei lebendigem Leib versaulen läßt.
Das erste und notwendigste wird sein, daß im Begriff Geschlechtskrankheit die Krankheit und nicht das Geschlecht betont wird. Pharisäer und Spießer sehen darin mit grinsender Schadenfreude noch immer eine Strafe Gottes. Sie selbst haben die Befriedigung ihrer Lust nie außerhalb des bürgerlichen Gesetzbuches gesucht, also dürfen sie sich als honorige Leute darüber freuen, wenn andere auf Seitenwegen hineinfallen. Ginge es nach ihnen, so dürfte es gegen dergleichen Krankheiten überhaupt kein Mittel geben, die Sünde müßte mit siebenmalsiebenfältigem Tod bestraft werden.
Die Wissenschaft hat auf sie keine Rücksicht genommen und proklamiert die absolute Heilbarkeit der Geschlechtskrankheiten.
Statt also einen ganzen Abend mit Lichtbildern über die Krankheit und ihren Verlauf und ihre Schrecken auszufüllen, sollte man dieselbe und noch mehr Sorgfalt darauf verwenden, für die Heilbarkeit Propaganda zu machen.
Damit ist den Kranken viel besser geholfen, als mit billiger und erfolgloser Bangemacherei. Und die Aussicht auf Heilung wird die heilsame Furcht vor der Ansteckung um keinen Deut vermindern.