Original

29. Dezember 1925

Irgendwo in unsrer Nachbarschaft wurde am Weihnachtstag eine große Enttäuschung erlebt.

Es ließe sich darüber eine spaltenfüllende Weibnachtsgeschichte erzählen. Der Titel könnte lauten: Die verirrte Apfeltorte. Es könnte werden eine humorvolle, eine gefühlvolle, eine elegische, eine tragische Weihnachtsgeschichte. Wir könnten, fällt mir eben ein, das Thema für einen nächsten Weihnachtswettbewerb aufgeben. Die stoffliche Unterlage beruht auf eitel Wahrheit und ist voll und ganz aus dem Leben gegriffen.

Nämlich: Am Christtag, so um die Zeit herum, wo der Lieferwagen von Namür durch die Stadt von Tür zu Tür fährt, geht bei uns die Schelle am Gartentor und ein Junge gibt eine Anfeltorte ab. Das Mädchen meldet die Lieferung und erhält den Bescheid ,es müsse ein Irrtum vorliegen. Sie läuft nach dem Jungen und will ihm die Torte wieder einhändigen. Er erklärt im Brustton der Überzeugung, er habe sich ganz sicher nicht geirrt, wiederholt die Adresse, tut beleidigt, daß man ihm so wenig Findigkett zutrant und trollt sich.

Da sieht nun das Mädchen wieder mit der Apfeltorte und weiß nicht mehr, wie der Bäcker heißt, den ihr der Junge genannt hat. Etwas mit heim oder inger, meint sie. Es könne auch mit hausen, mann oder kirch gewesen sein.

Eine sosort eingeleitete telephonische Enquete führt zu keinem Nesultat. Niemand hat uns eine Apfeltorte geschickt, niemand in der Nachbarschaft in einem Radius von 200-20 Meter hat eine Apseltorte besteilt.

Gut, so wird sie kalt gestellt, die Sache muß sich ausklären.

Sie hat sich bis jetzt nicht aufgeklärt.

Die Apfeltorte steht noch immer da und sieht wirklich lecker aus.

Es ist die Apfeltorte unsrer Großmütter. Mit breiten, anscheinend saftigen Schnitten, die in gelbem Eierguß inkrustiert sind. Rund herum läuft ein brauner, matt blinkender Krustenrand, knusprig und trocken, wie geschaffen als Wegbereiter des letzten Glases Festwein.

Die arme, verirrte Apfeltorte gleicht einer Weihnachtsbotschaft, die an die falsche Adresse geraten ist, einem vielversprechenden Menschenkind, das seinen Beruf verfehlt und mit all seinen Talenten auf ein totes Geleise geraten ist.

Das Schlimmste aber ist, daß sie am Freitag auf dem Tisch gefehlt hat, für den sie bestimmt war, an dem sie als Krönung des Weihnachtsschmauses sehnsüchtig erwartet wurde.

Man malt sich die Enttäuschung der Hausfrau aus, den Unwillen des Vaters, den Schmerz der Kinder, den Zorn der ganzen Familie über den unzuverlässigen Bäcker. Denn wer wird sich nicht ärgern über solches Mißgeschick? Hier hätte die Phantasie der Weihnachtsgeschichtenerzähler einzusetzen. Beschreibung der Katastrophe, wie sie sich langsam, drohend entwickelt, erst die dämmernde Ahnung, daß die Torte zu spät, daß sie am Ende gar nicht kommen könnte, Steigerung der Spannung, Hoffnung bis zur letzten Minute, kummervolle Gewißheit, Ärger über den Bäcker, Aufspüren der Verantwortlichkeiten grade wie bei einer Eisenbahnkatastrophe, aufsteigender Verdacht gegen die Nachbarn, die das leckere Backwerk hohnlächelnd unterschlagen haben könnten. Oder umgekehrt humoristische Auffassung des Abenteuers - nirgends offenbart sich der Charakter so unverfälscht, wie beim Ausbleiben einer Dessert-Torte - ein Schnippchen dem tückischen Geschick, Kinder, wir lassen uns die Laune nicht verderben, Stille Nacht heilige Nacht mit Glockengeläute. O Tannenbaum idem, eine Torte, die wir nicht gegessen haben, brauchen wir nicht zu bezahlen usw. Und schließlich, unsre wackre Stadtpolizei wird den Zusammenhang schon aufdecken, usw. usw.

Oder, wie gesagt, Weichenstellung ins Elegische, Gefühlvolle, etwa mit einer Verlobung zum Schluß?

Jedenfalls steht die verirrte Apseltorte ihrem rechtmäßigen Eigentümer zur Verfügung.

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    Katalognummer BW-AK-013-3067