Original

1. Januar 1926

Ei du verdammter kleiner Racker!

Also ich stehe am Schaufenster der Buchhandlung Kraus und betrachte mir die Auslage. Auf der Titelseite eines „Miroir des Modes“ ist ein Kinderkopf gemalt. Ein allerliebstes Kerlchen. Es langweilt sich. Es reißt sein Mäulchen sperrangelweit auf und gähnt, gähnt - ein Gähnen, so groß wie die Welt - und ich sehe hin und es steigt mir in den Schlund, langsam, unwiderstehlich - erst will ich es durch die Rüstern abführen, aber es ist zu stark, es zwingt mir den Mund auf, es erfüllt mich ganz, es durchzieht mich, wie ein in langsamen, elastischen Drang aufgelöster Spasmus, und ich gähne, gähne, und ich glaube zu sehen, wie sich der kleine Halunke über mich einen Buckel lacht.

Ich stelle mich abseits und beobachte die andern, die meinen Platz einnehmen und sich ebenfalls die Auslage ansehen. Es dauert keine zehn Sekunden, so zittern ihnen die Nasenflügel, eine Hand fährt nach dem Mund, die Kiefer klaffen und die Wonne des Gähnens strahlt ihnen durch alle Glieder.

Eine Dame hat mich beobachtet.

„Sie Heimtücker,“ lacht sie mich an. „Dafür sollen Sie büßen. Wir haben alle dort über den Knirps gegähnt, Sie sollen uns helfen, daß seinesgleichen uns ein paar vergnügte Stunden verschaffen.“

Ich sah sie kommen. Ich wußte gleich, daß sie mich für das bevorstehende Fest der Kinderkrippe in Auspruch nehmen würde.

Wetten, daß es noch Leute in Luxemburg gibt, die nicht wissen, was die Kinderkrippe ist!

Kinderkrippe ist, wenn eine arme Frau ein Puppel- chen kriegt und keine Zeit hat, es richtig zu pflegen, weil sie in Tagelohn gehen und Geld verdienen muß; wenn dann mildherzige Damen mit mütterlichen Instinkten und gütigen Herzen hingehen und den armen Wöchnerinnen die Sorge für ihre Kleinen abnehmen: Das ist Kinderkrippe.

Gibt es denn das in Luxemburg?

O ja, seit langen Jahren. Im Breitenweg liegt ein Haus mit der Hinterfront nach der Corniche, es heißt „Am Paredeis“, dorthin bringen Mütter ihre Kleinen im Alter von acht Tagen bis zu drei Jahren. Sie bringen sie morgens um 8 und holen sie abends um 6 Uhr ab. In der Zwischenzeit werden sie fachfraulich gewartet und gepäpelt und gedeihen, daß es eine Freude ist zu sehen und werden von klein auf an Sauberkeit gewöhnt, und schleifen ihre werdenden Charakterchen aneinander ab.

Wer das Geld dazu gibt? Ja, das ist eine indiskrete Frage. Kredite dafür stehen in keinem öffentlichen Büdget, wohl aber in milden, kinderlieben Herzen; und das Geld ist nicht einmal die Hauptsache, Hauptsache ist die Liebe zur Sache und zu den Mitmenschen, den kleinen und den großen.

Aber Geld muß auch sein, natürlich. Und die Damen, die zusammen die Kinderkrippe am Gehen erhalten, nähren sogar eine kühne Hoffnung: Nämlich daß sie einmal vielleicht, vielleicht durch ein Wunder, vielleicht durch ein Vermächtnis oder eine Schenkung, reich genug sein werden, um für ihre Kleinen irgendwo in einer gesunden Lage ein eigenes Heim bauen oder kaufen zu können, ein zweckmäßig eingerichtetes Haus mit Garten oder Spielplatz. Inzwischen scharren sie Geld aus allen Ecken und Eckchen zusammen und sparen und beißen die Zähne aufeinander und sagen: Wir müssen es packen!

Am Sonntag Nachmittag geben sie im Cercle das Jahresfest der Kinderkrippe, von dem sie sich immer viel versprechen und das sich schon so eingebürgert hat, daß es trotz Weihnacht und Neujahr die Konkurrenz aushält und jedesmal einen erklecklichen Zuschuß zu dem Bau- oder Kauffonds liefert. Es ist ein Thé dansant mit Wohltätigkeitsbazar und Tombola.

Geh hin, hoffnungsvoller Jüngling, geh hin, reizende Leserin - wer weiß, vielleicht ziehst Du in der Tombola Dein Lebensglück.

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    Katalognummer BW-AK-014-3070