Wir sprachen grade von Lyon und von der Aussicht, die man von Fourvières bis zu den Schneegipfeln der Savoyer Alpen genießt. Einer nannte das Massiv der Grande Chartreuse.
Da zog unser Freund sein Portefeuille und entnahm ihm ein gepreßtes Blumenzweiglein.
„Das habe ich vorigen Sommer im Zellengärtchen eines Karthäusermönches gepflückt,“ erzählte er. „Die große Karthause ist seit der Ordensvertreibung in Frankreich verödet, die Mönche sind nach Tarragona in Spanien ausgewandert und brauen dort ihren berühmten gelben und grünen Schnaps. Jemand hat kürzlich vorgeschlagen, das weitläufige Gebäude der wissenschaftlichen Forschung dienstbar zu machen. Ein Gelehrter, der im Kampf mit einem Problem liegt und sich ganz konzentrieren, sein Gehirn unter Hochdruck halten muß, bis er dem Dunkel das Licht, dem Zweifel die Wahrheit abgerungen hat, der sollte in einer dieser leeren Karthäuserzellen Gelegenheit finden, sich ganz von der Welt abzuschließen. Strengste Klausur. Er soll ganz allein sein mit seinem wissenschaftlichen Rüstzeug. Abgedichtet vom Leben und seinen Ablenkungen. Keine Geliebte soll ihn locken, kein Kindergeschrei ihn stören, keine holde Gattin soll den Kopf zur Tür hereinstrecken und fragen: Männe, wo gehen wir denn heute abend hin? Oder: Kannst du mir eben mal 750 Franken geben, es sind ein paar Rechnungen zu bezahlen. Keine politischen Freunde dürfen bei ihm eindringen und ihm eröffnen, das Heil des Vaterlandes hänge davon ab, daß er als Fünfzehnter mit auf ihrer Kandidatenliste steht! Sein Essen wird ihm durch ein Schiebetürchen gereicht, die Stunden der Erholung bringt er in dem hoch ummauerten Gärtchen neben seiner Zelle zu, mit Spazierengehen, Graben, Säen, Baum- und Blumenpflege, nie geht er auf Armlänge von seiner Arbeit fort - bis er sein Ziel erreicht, seine Aufgabe gelöst, die Antwort auf die große Frage gefunden hat. Dann mag er wieder im Strudel der Welt untertauchen, bis ihm ein Anderes auf die Finger brennt und er wieder die nötige Ruhe und Sammlung in der Karthäuserzelle sucht.“
Dies ist beileibe kein Scherz.
Heutzutage sucht der Gelehrte, der Forscher, der Künstler, der Literat unweigerlich den Kulturbrennpunkt der Großstadt, weil er dort geistig das Höchste empfangen, von dort am stärksten in die Welt wirken kann. Aber die Großstadt lauert auf ihn mit den mancherlei Gefahren der Verzettelung, wieviele der fruchtbaren Nachtstunden muß er den Ansprüchen opfern, die sie an den Gesellschaftsmenschen stellt! Warum also sich nicht für die Dauer einer geistigen Gestation ausschalten, vollständig, unwiderruflich, luftdicht?
Wer über die weltumspannende Macht der katholischen Kirche nachdenkt, muß finden, daß ihre Kraftreserven in der Stille einer unnachsichtigen Absonderung geschaffen wurden und werden. Kloster und Retraite - jenes die Absonderung, Konzentrierung, völlige Ausschöpfung des Individuums ein Leben lang, diese die periodische Flucht in die Einsamkeit: Einkehr, Inventur, Bilanz. Einmal sich über sich selbst klar werden, seine seelischen, moralischen, ethischen Aktiva und Passiva gegen einander aufrechnen, das Fazit ziehen, auf zuverlässigem Vortrag weiter innerlich wirtschaften, dazu braucht es einer Karthäuserzelle, einer wirklichen oder fiktiven. Man muß sie sich bauen von Zeit zu Zeit, unnachsichtig, rücksichtslos, auf die Gefahr hin, daß die, die vergebens an die Türe klopfen, verschnupft ihres Weges gehen.