Zu den Gebrauchsgegenständen, die allmählich aus der Mode, zu kommen scheinen, gehören in erster Linie der Sonnenschirm und der Glacéhandschuh. Die jungen Mädchen von heutzutage sind viel mehr, als früher, Freiluftgeschöpfe und ein gesunder Teint steht ebenso hoch im Kurs, wie der reine Teint, den sie früher vor jedem Sonnenstrahl hüten zu müssen glaubten.
Der Glacéhandschuh war eigentlich stets ein Luxus, der sich aus dem Stand der Zivilisation nicht erklärte. Wozu trägt man Handschuhe? Gegen Kälte und gegen Verunreinigung. Der Handschuh, der diese Bestimmung erfüllt, wird nie abkommen. Immerzu wird der Chauffeur im Winter sein Steuer nur mit Pelzgefütterten anfassen, immerzu wird der Eisenbahnreisende auf laugen Strecken seine Hände gegen Beschmutzung durch Handschuhe schützen. Aber im gesellschaftlichen Verkehr konnte der Handschuh doch nicht den Zweck haben, unsaubere Finger zu verbergen oder sich vor Verunreinigung zu sichern. Höchstens daß ein junger Mann sich sagte, er müsse beim Tanz wenigstens an der linken Hand ein Futteral von Zickleinfell tragen, um das Kleid seiner Tänzerin nicht in der Taillengegend zu bemakeln.
Trotzdem: Seit sich die Kulturmenschheit in erhöhtem Maße sauberer Finger bewußt ist, flaut die Handschuhmode ab, soweit sie reine ToiletteAngelegenheit ist.
Dies ist symptomatisch für eine Umstellung durch den ganzen Kodex der Verkehrsformen hindurch. Die sogenannte Höflichkeit wird allmählich andrer Wesensart.
Lange Zeit waren die Höflichkeitsformen ein freiwilliger Zwang, den man sich gegen die Bestie im Innern, gegen die Urinstinkte auferlegte, weil man ihnen nicht über den Weg traute. Die gesamten Höflichkeitsregeln waren ein kodifizierter Altruismus, aber ein künstlicher. Ein Korsett, in das die Gesellschaft ihre widerspenstige Selbstsucht einschiente. Der Instinkt forderte den besten Platz und das beste Stück, die Höflichkeit gebot, daß man sie den andern überließ. Natürliche Neigung gruppierte in Gesellschaft die Gäste, wie es ihnen am liebsten war, die Regel verteilte sie so, daß die am weitesten auseinander saßen, die sich am meisten zu sagen hatten. Warum? Warum tragen Frauen Korsette? Die Gutgewachsenen können sie entbehren. Und eine „gutgewachsene“ Gesellschaft kann heute auch das Korsett der alten Umgangsregeln entbehren. Sie muß in Dingen der Höflichkeit, der inneren Höflichkeit so durchtrainiert sein, daß sie sich nicht mehr auf Schienen zu bewegen braucht und instinktiv den rechten Weg findet. Die Höflichkeit muß eine Sache des Herzens, des inneren Bedürfnisses, nicht der Anerziehung sein. Die Formeln fallen dann ab, wie Eierschalen. Solange Höflichkeit noch in der Bewußtheit ruht, ist sie Formel. Wohl ist dem wirklich höflichen Menschen nur in einem Kreis, in dem nicht überall unsichtbar an den Wänden die Tafel hängt: Verboten ist 1), 2), 3) usw., in dem er nicht das Empfinden hat, daß er auf Schritt und Tritt einen Beckmesser kreuzt, der die Fehler rot anstreicht und sich mit einem andern Beckmesser hämisch darüber unterhält.
Hier kommt die Höflichkeit gegen Frauen als ein eigenes Kapitel in Betracht. Die gehobenere Stellung der Frau, ihre größere Freiheit in der Bewegung haben im Grunde den Mann von keiner seiner Pflichten der Ritterlichkeit entbunden, aber auch da ist die Gesinnung über die Form hinweggegangen.
Die Freiheit steht am höchsten in Ehren, da wo jeder weiß, daß kein Mißbrauch damit getrieben wird. Wer die Sicherheit hat, daß er unter lauter ehrlichen Menschen lebt, braucht keine Schlösser an seinen Türen. Die Höflichkeitsformen haben nur Daseinsberechtigung, wenn Knoten, gebildete und ungebildete, um die Wege sind.