Es lassen sich zwei Frauenkörper, von genau denselben Ausmaßen denken. Im ruhenden Zustand wäre zwischen beiden nicht der mindeste Unterschied zu entdecken: Ganz genau dieselben Linien, Umrisse, Formen der Glieder, in allem die ideal vollkommene Gleichheit.
Auf einmal setzen sich beide miteinander in Bewegung, und sofort springt ein Unterschied in die Augen: der eine bewegt sich banal. regelmäßig, gesetzmäßig, zweckmäßig. Die Fortbewegung ist einziges Ziel und Hauptsache. Der andre Körper aber ist bei jedem Schritt von Grazie umflossen, eine stumme Musik entströmt ihm in den Raum, jede Bewegung von ihm ist ein Geschenk für die Augen des Beschauers, ein Loblied auf die Harmonie der Schöpfung.
Der eine ist normal, der andre auch, aber außerdem graziös.
Was ist Grazie? Grâce, heißt es auf französisch, und das bedeutet nicht nur Anmut, sondern Gnade. Gnade aber ist ein Geschenk des Himmels. Du kannst sie erflehen, verdienen, aber nicht erzwingen. Du hast sie oder du hast sie nicht. Wohl dir, wenn du sie hast, liebe Leserin. Denn sie ist wie ein Heiligenschein, sie rührt die Herzen der Menschheit und macht dir alle zu Freunden. Du magst schön sein, wie eine Göttin, so dir die Grazie fehlt, bist du ewig unbegnadet. Grazie ist an Schönheit nicht gebunden. Es gibt graziöse Häßlichkeit. Grazie ist das Geschenk des Himmels, das die Frau niemals mit dem Mann teilen muß, ja teilen darf. Wehe dem Mann, dem man Grazie nachrühmt!
Man soll nicht versuchen, Grazie zu definieren. Man kann einige ihrer Merkmale aufzählen, aber man kann ihr Wesen nie ganz mit Worten einfangen. Grazie ist alles, was an der Frau ewig sein muß, damit sie Frau bleibt. Sie ist der Gradmesser der Weiblichkeit. Die Frau ohne Grazie hat den ersten Schritt zur Vermännlichung zurückgelegt.
Grazie sieht man nicht, man empfindet sie wie eine Verheißung von Güte, Hingebung, Milde, Sanftmut, Klugheit, Aufopferung, Lächeln, Trost, Mütterlichkeit. Das alles kann eine Frau in den Augen haben, dann heißt es nicht Grazie. Grazie wird es, sobald es sich in ihren Bewegungen ausprägt. Darum spricht man von einem graziösen Körper, aber nie von einem graziösen Blick, einem graziösen Gesicht. Eine Frau kann ausgesprochen häßlich sein und doch bei Männern ihr Glück machen, wenn um ihren Körper das Gottesgnadentum der Anmut ist. Umgekehrt wird es wenig Männer geben, die einem schönen Gesicht einen ungraziösen Körper verzeihen.
Grazie ist nicht Verneinung oder Gegensatz zu Kraft. Kraft kann graziös sein und Grazie kann Kraft atmen. Ein mit Grazie begnadetes junges Mädchen wird zum Beispiel durch Sport, durch Tennis, Schwimmen usw. nie ungraziös werden.
Wie Sie es anfangen sollen, graziös zu werden? Ja, meine lieben Kleinen, das wird man nicht, das muß man eben sein. Das einzige, allerdings auch nicht immer sichere Mittel wäre, daß Eure Väter immer nur graziöse Frauen heiraten, und daß Ihr dann nach Euern Müttern artet.