Original

21. Januar 1926

Jeder Mensch muß irgendwo eine Heimat haben.

Wer eine Heimat hat, weiß auch, was Heimatglocken sind.

Mit den ersten Heimatglocken ist es, wie mit der ersten Liebe, Gegen sie kommen keine andern auf.

Aber zweite, vielleicht dritte Heimatglocken haben auch ihren Zauber.

Dies soll eine Einleitung sein zu einem Dankesbrief an die Hollericher Glocken.

Meine lieben Hollericher Glocken! Ich fühle mich gedrängt, Euch zu danken für alles, was Ihr mir wert geworden seid in einer langen Reihe von Jahren.

Von Hollerich herüber dringen zu uns allerhand erdgebundene Geräusche. Die Sirenen heulen und wecken ängstliche Erinnerungen an die Zeiten, wo hinter ihrem Geheul heimtückisch das Surren der todbeladenen Flugzeuge durch den Himmel kam. Die Lokomotiven stoßen ihre Pfiffe steil in die Luft, die Züge rollen, die rangierenden Wagenreihen prallen weithallend aneinander, an Kirmestagen kommen die zähen, rund schwingenden Weisen der Karussell-Drehorgeln.

Über all diesen irdischen Geräuschen ist Euer Klang so seltsam aus der Höhe geboren, so ungebunden verziitternd, so wesenlos, als klänge er aus sich selber auf, ohne schwingendes Erz, ohne Männer, die an Seilen hängen. Er kommt zu uns wie eine Botschaft aus dem Jenseits, füllt lustvoll vibrierend den Raum, verschwindet im Nichts, aufgelöst, aufgetrunken in der Ewigkeit.

Manchmal kommen Eure Klänge mit dem Wind wie Tauben, graden, leichten Flugs, manchmal dringen sie verflatternd gegen den Sturm, hin- und hergerissen, wie die Raben, die mit hartnäckigen Flügelschlägen, immer wieder abgetrieben, ihren Weg erkämpfen.

Manchmal ist es nur eine von Euch, deren Stimme zu uns dringt. Sie ruft ins Volk, lässig, unfroh wie man ist, wenn man eine alltägliche, langweilige Pflicht erfüllt. Sie ist - seid mir nicht bös - im Morgen- dämmer wie eine verschlafene Köchin, die für die Herrschaft, wenn sie auf den Frühzug muß, in Pantoffeln und Unterrock den Morgenkaffee kochen muß.

Aber wenn Ihr alle zusammen Ostern einläutet, dann liebe ich Euch. Dann bestirnt der Crocus die braune Erde mit ostereierfarbenen Flecken und mit Euerm Geläut kommt aus dem Süden die laue Luft, die mit Liebe und Friede und Hoffnung geladen ist. Dann werden unsere Herzen selber zu Glocken und läuten mit Euch zu Hauf.

Also Ihr lieben Hollericher Glocken, jetzt kommt bald der Fasching, dann kommt Aschermittwoch, dann kommen die Fasten, dann kommt Karfreitag, wo Ihr Eure Reise nach Rom macht - grüßt mir den Heiligen Vater, meinen alten Freund Karl Eugen und auf dem Forum die Rosen am Tempel der Vestalinnen - und wenn Ihr dann wiederkommt, dann läutet uns jubelnd Ostern ein, daß alle schwarzen Gedanken sich verkriechen, wie Kellerasseln.

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    Katalognummer BW-AK-014-3086