Original

27. Januar 1926

Der Vorstellungskreis unserer Kindheit war mit Gestalten bevölkert, die einem Höllenbreughel Spaß gemacht hätten und die in späteren Jahren sich an irgendeiner Erkenntnisecke plötzlich in Luft auflösten.

Da war zum Beispiel der Iblahmen. Der Iblahmen hatte einen kleinen, spitzen, weißen Kopf -, Ib - und einen großen, breiten, geblähten, schwarzen Bauch - Lahmen. Er war wie eine riesige Milbe, aber er ging aufrecht, auf zwei winzigen Hinterbeinchen, die man nicht sah. Der Iblahmen war der Schrecken unsrer Nächte, im Wachen und im Träumen. Er kam über die Bettdecke, den kleinen, winzigen, weißen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, ein grausames Grinsen in dem starren Milbengesicht, seine zwei kurzen Ärmchen hielt er nach oben an sich gezogen, mit herunterbaumelnden Händen, wie ein Hündchen, das „schön“ macht. So kam er über das hochgewölbte Federbett, langsam, anschwellend, dräuend - bis man vom eigenen Angstschrei erwachte.

Wir beteten eifrig um Erlösung von diesem Kinderschreck. „Und fihre ons nicht in Versuchung, sondern erlesi ons vom Iblahmen!“

Am Tage, wo wir so weit lesen gelernt hatten, daß das gedruckte Vaterunser für uns keine Geheimnisse mehr hatte, war der Iblahmen erledigt.

Ein andrer, gutartiger Spuk verdankte ebenfalls sein Dasein dem lebendigen und sein Ende dem gedruckten Wort.

Er hieß „Rengeldeßähren“. Er trat in verschiedener Gestalt auf. Aber immer als phantastische Erscheinung, die sich im Kreis drehte, von farbigen Gewändern umflossen. Das war die Vorstellung, die aus den zwei suggestiven Silben „Rengel“ geboren war. Was Rengel hieß, konnte sich nur im Kreis drehen. Aber im Hintergrund des Bildes, schemenhaft, immateriell, stritten sich zwei Visionen um den Vorrang. Der zweiten Hälfte des Wortes: „ßähren“ entklangen zwei Begriffe, deren Namen identisch lauteten: „Zären“. Das konnte heißen die Zeiger an der Turmuhr oder es konnte heißen das Pfarrhaus. Beide Male war der Zusammenhang mit Kirche und Gottesdienst hergestellt. Und so kam es, daß wir bei den Worten: Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft - nicht einen Engel sahen, sondern einen „Rengeldeßähren“, den ich mir heute viel besser mit geschlossenen Augen vorstellen, als irgendwie genau beschreiben kann.

Auch er wurde Luft von der Stunde an, wo wir zuerst zu lesen vermochten: „Der Engel des Herrn“.

Und dann war da der gute alte Gard Jean Peter Wir hörten oft, wie im Gespräch der Erwachsenen der Bannhüter als Gard Jean Peter erwähnt wurde. Wir wußten, daß er nicht Jean und nicht Peter, sondern „Hänzen“ hieß. Wir wußten auch schon, daß man im Französischen nicht Jean Peter, sondern Jean Pierre sagen mußte. Aber die Großen mußten es doch besser wissen. Und sie wußten es besser. Wir überzeugten uns davon, als uns zum ersten Mal das Vokabel Garde champêtre entgegentrat.

Hieher gehört auch ein junger Mann, über dessen Wesen wir uns lange den Kopf zerbrachen. Er hieß mit Vornamen Will, mit Hausnamen Kohz. In den Gesprächen der Erwachsenen wurde oft und erregt der Kohze Will als Kronzeuge angerufen, und wir stellten uns ihn lange vor als einen vornehmen und gelehrten jungen Mann aus der Stadt, der eine große Brille auf der Nase trug und hinter einem Haufen Bücher saß, und den die Leute fragten, wem eine Wiese oder ein Misthaufen gehörte, und der dann eifrig in seinen Folianten blätterte und ihnen Bescheid sagte.

Später sank auch er vor dem Code civil ins Nichts zurück.

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    Katalognummer BW-AK-014-3091