Original

5. Februar 1926

Man macht sich so seine Gedanken, wenn man die Zeitungen liest. Man liest über eine ganze Seite weg und findet alles in Ordnung, plötzlich bleibt man an einem Detail hängen, und dann tritt das ein, was man nennt „sich seine Gedanken machen“.

So las ich beispielsweise in einem Blatt die Meldung von der Verhaftung des Juwelenräubers, der im amerikanischen Wildweststil den Laden Schaul ausgeplündert hatte. Darin ist berichtet, daß der Verhaftete vor Jahren als Neunzehnjähriger schon eine ähnliche Missetat vollbracht und dafür längere Zeit im Gefängnis gesessen hatte. „Herr Kill (der Polizist, der dem Verbrecher auf die Spur gekommen ist) wußte sich nun, wie es in dem betreffenden Blatt heißt, eine Photographie des von ihm verdächtigten Thill zu verschaffen, in welchem Frau Schaul sofort den Räuber wieder erkannte.“

Es wird also als ein besonderes Verdienst hervorgehoben, daß sich Herr Kill eine Photographie des verdächtigen jungen Mannes zu verschaffen wußte.

Das ist es, was zu denken gibt.

Th. war seinerzeit wegen Überfalls mit bewaffneter Hand verurteilt worden. Er hatte längere Jahre im Zuchthaus gesessen. Nun besteht, soviel bekannt, in Zuchthäusern der Brauch, daß sogenannte Jungen von einigem Gewicht vor ihrer Entlassung photographiert werden, und daß ihre Photographie einem sogenannten Verbrecheralbum einverleibt wird.

Wenn es trotzdem seitens des Herrn Kill eines merklichen Aufwandes von Scharfsinn bedurfte, um sich eine Photographie des Th. zu verschaffen, so ließe das darauf schließen, daß das Konterfei dieses vielversprechenden Zeitgenossen das Verbrecheralbum nicht schmückt. Sonst hätte man es der Frau Schaul schon am Tage nach dem Raub vorlegen können. Enthält es dagegen die bewußte Photographie, so macht man sich eben seine Gedanken darüber, weshalb diese Konfrontierung in effigie nicht früher stattgefunden hat, und weshalb Herr Kill sich erst eine Photographie des Th. zu verschaffen wissen mußte.

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    Katalognummer BW-AK-014-3099