Original

10. Februar 1926

Sie sind doch auch meiner Ansicht, daß sich wahre Treue immer im Auge spiegelt? Vorbildlich dafür ist der Jagdhund, der seinen Herrn, nein, der einen jeden mit großen, braunen, sprichwörtlich treuen Augen ansieht.

Worauf dieser Eindruck der Treue beruht, den gewisse Augen unfehlbar machen, das ist noch niemals richtig erklärt worden. Es sind da allerhand psychophysiologische Zusammenhänge, die klar zu erfassen nicht leicht und nicht einfach ist. Man käme letzten Endes vielleicht zu der wenig schmeichelhaften Entdeckung, daß Dummheit mit einem starken Prozentsatz zu den Ingredienzien der Treue gehört. Auf luxemburgisch: „D’Guddheet aß e Steck vun der Dommheet.“

Unter den Kino-Augen - denn Kino-Augen sind heute eine Spezialität, die sehr gesucht ist - unter den Kino-Augen stehen die mit Treue im Blick besonders hoch im Preis. Alle Zuschauer fallen darauf hinein, wenn das junge Mädchen den Helden mit vernehmlichem Augenklappern ihrer Treue versichert.

Ich hatte, wie jedermann, von jeher eine Schwäche für treue Augen. So suchte ich beispielsweise im Karneval die schönen Masken immer nach dem Blick zu klassieren, der aus den Schlitzen ihrer Larve funkelte. Nicht immer mit dem erhofften Resultat.

Heute bin ich den sogenannten treuen Augen gegenüber skeptischer geworden. Das kam so:

Eines Tages begegnete mir auf der Straße ein Trupp Sträflinge, die unter Aufsicht eines Wärters einen kleinen Deichselwagen mit Korbstühlen zogen und schoben. An der Deichsel der Handmann, wenn ich so sagen darf, sah mich an, als ich grade dicht an ihm vorbeiging. Er schlug zu mir ein paar große, schöne, braune, treue Hundeaugen auf. Wenn ich in dem Augenblick eine halbe Million auf der Bank zu beheben gehabt hätte, keine Sekunde hätte ich gezaudert, diesen jungen Mann damit zu betrauen, und es wäre mir im Traum nicht eingefallen, überhaupt für möglich zu halten, daß er von der Bank weg ins Madrid ginge und von da des Abends mit dem Schnellzug nach Brüssel führe.

Wie kam dieses Urbild der Treue in die graue Gefängnisjacke?

Ich erkundigte mich. Er hatte zirka siebzehn Ver- urteilungen wegen Diebstahls hinter sich. Bei siebzehn verschiedenen Herren war er im Dienst gewesen, alle hatten sich von seinem treuen Auge bestechen lassen und alle waren von ihm bestohlen worden.

Aber: Die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn! War er untreu gegen den Herrn gewesen, so hatte er dafür seinen Freunden die Treue gehalten, unentwegt, bis vors Zuchtpolizeigericht und bis in die Gefangenschaft. Brauchte einer von seinen Freunden Geld, so nahm er ihm das Versprechen ab, bis abends die Summe zu beschaffen. Und abends war er damit zur Stelle.

Denn sehen Sie, die Treue ist keine Sache des Niveaus, es kann einer in dem, was die Menschen schlecht nennen, ebensogut treu sein, wie in dem, was die Menschen gut nennen. Treue ist eine Bestimmungsgleichung, die nur aufgeht, wenn das x darin einen bestimmten Wert hat. Setzt man dafür einen andern Wert, setzt man statt des Kameraden den Herrn, so stimmt die Gleichung nicht mehr.

Seit mich jener treue Sträslingsblick getroffen hat, bin ich gegen treue Augen mißtrauisch geworden.

Treu sind sie immer, aber wem?

TAGS
    Katalognummer BW-AK-014-3103