Original

16. November 1922

Gibt es in der Welt eine Zusammenstellung zweier Silben, die so restlos den Begriff der Ungemütlichkeit ausdrücken könnte, wie heute das Wort Berlin?

Und doch gab es einmal ein Berlin, in dem es sich gemütlich leben ließ. Eine Erinnerung daran steigt in mir auf.

Es war das Berlin zwischen Fontane und Julius Stinde, wo Maximilian Harden noch Paul Lindau hieß, wo man am historischen Eckfenster des Palais Unter den Linden noch den alten Kaiser Wilhelm stehen sah und sein Enkel, der den kommenden Jahrzehnten seinen Namen anhängen sollte, als Husarenleutnant seine Sporen verdiente.

Es war die Nachkulturkampfperiode. Freund Benn und ich wohnten Türe an Türe in einem Ursulerinnenkloster, aus dem die Nonnen vertrieben waren. Es lag in der Lindenstraße, schräg gegenüber der Jerusalemerkirche, dicht neben der Feuerwehrzentrale, und wurde von einem alten Fräulein für Rechnung des Ordens bewirtschaftet, der es unter der Hand zurückgekauft hatte. Im Vorderhaus wohnten allerlei Zentrumsgrößen, M.M. d.d. R.R., im Hinterhaus Studenten aus den katholischen Gegenden. Ein selisames Gefühl überkam einen, wenn man sich klar machte, daß diese enge Studentenbude, in der grade Tisch und Bett Platz hatten, vor ein paar Jahren noch eine Klosterzelle gewesen war, in der ein junges Mädchen seinen irdischen Lebenstraum hatte begraben und direkte Beziehungen zum Himmel hatte anknüpfen wollen. Gegenüber, in der Hinterfront des Vorderhauses, wohnte die Familie des Küsters. Denn wir hatten einen Küster, weil wir eine Kapelle hatten. Die geistlichen Herren Zentrumsabgeordneten hielten darin den Gottesdienst, dem ihre weltlichen Kollegen und die paar Katholiken der Nachbarschaft beiwohnten. Der Küster war ein magerer Labelang mit wehendem blondem Vollbart und Schlotterbeinen. Sonst war uns an ihm nichts merkwürdig, außer daß seine Frau zuweilen einen Hasen oder eine Gans zum Durchfrieren am Küchenfenster heraushängte.

Einmal hatte er mir zugehört, wie ich an einem einsamen Sonntag Nachmittag - es war schon im zweiten Drittel des Monats - aus den Liedern von Mendelssohn mir die schönsten aus heller Stimme vorsang. Ich hielt es nicht für ausgeschlossen, daß ich einmal als Bariton Karriere machen würde. Escamillo war die Rolle, auf die ich es hauptsächlich abgesehen hatte. Da kam der Küster zu mir herein und frug, ob ich nicht in seinem Kirchenchor mitsingen wollte. Ich war einerseits geschmeichelt, andrerseits lag die Zumutung nicht ganz in der Richtung meiner Zukunftsträume.

„Wir haben einen sehr netten gemischten Chor. Die kleine Charlotte Wild singt manchmal Solo, dann ist die ganze Gemeinde weg. Vielleicht könnten Sie beide ....“

„Ist die kleine Wild die mit den dicken braunen Zöpfen?“

„Jawohl, die Tochter aus dem Wiener Café“

Ich sagte zu. Die kleine Wild mit den braunen Zöpfen war Benn und mir schon aufgefallen. Er sagte, sie sei ein Bommelchen, während ich fand, sie sei grade richtig.

Also ich sang ihr zulieb mit im Kirchenchor der Ursulerinnenkapelle und legte mein ganzes Geld in ihrem elterlichen Café in süßen Schnäpfen an.

Aber das alles ist nicht der Urgrund der Erinnerung, die mir aus jener Zeit nachgeht. Das ist vielmehr ein altes Marienlied, das sie in der Kapelle manchmal sangen, das ich nie vorher gehört hatte und das ich seit jener Zeit nie wieder gehört habe. Es beginnt: „Wir schmücken Dir Dein golden Haar - Mit Rosen zart und Lilien klar.“ Es geht nach einer süßen, seltsamen Walzerweise, die ich mir manchmal vorpfeife und die hier niemand kennt ....

Das alles paßt in das Berlin von heute, wie eine weiße Rose in eine Schale mit Benzin.

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