Original

27. Februar 1924

Zwei Lyceistinnen gingen hinter mir. Sie verlachten sich in einem fort darüber, wie sie einen ihrer Professoren wieder „so rasend“ gemacht hatten. Er hatte es lange in sich hineingefressen, aber sie hatten gesehen, wie seine Hände gezittert und seine Mundwinkel gezuckt hatten, bis die mühsame Beherrschung zusammenbrach und er vor Wut tanzte, wie eine Hummel, die man auf den Rücken legt. Und sie lachten, daß sie fast den Atem verloren, und beredeten, wie sie es in der nächsten Stunde machen würden, um ihn „noch rasender“ zu bekommen.

Zuhause las ich in einer amerikanischen Zeitung Folgendes: „Ein berühmter Arzt in New York führte auf Grund jahrelanger Beobachtungen und Studien aus, wie Menschen es bis zu einem Alter von 120 Jahren bringen können. Unter den Vorschriften, die dabei zu beobachten sind, befindet sich auch diese: „Zähme deinen Zorn!“ Sich ärgern erklärte der Arzt, zerstört unweigerlich die Gewebe und untergräbt die Gesundheit.

Es ist erfreulich, daß Aufgeräumtheit und ein unverbitterter Sinn nicht nur angenehme Charaktereigenschaften sind, sondern auch zur Langlebigkeit und körperlichen Gesundheit beitragen.

Vom menschlichen Standpunkt ist Ärger lächerlich und töricht. Er scheint auch gefährlich zu sein, da er das Leben verkürzt und den Vorrat an Lebenskraft erschöpft.

Darum laßt uns fröhlich sein und lang leben.“

Als ich dies gelesen hatte, dachte ich an die zwei Lyceistinnen und ihren Professor. Und ich weiß nicht wie, plötzlich sprangen meine Gedanken über auf ein Buch von Henri Robert, Les grands procès de l’histoire, und blieben an der Geschichte der Marquise de Brinvilliers haften. Sie war eine der größten und zynischsten Giftmischerinnen aller Zeiten. Sie brachte ihren Vater durch geschickt dosierte Arseniktränkchen um, während sie ihn mit rührender Tochterliebe zu pflegen schien, und ließ auf dieselbe Weise ihre beiden Brüder durch den Lakai La Chaussée vergiften. Sie endete auf dem Schafott. Diese Todesart hätte sie vermeiden können, wenn sie die Theorie des New Yorker Arztes und das Verfahren der beiden Lyceistinnen gekannt hätte.

Wie leicht wäre es gewesen, ihren Vater langsam zu Tode zu ärgern, statt ihn mit Arsenik zu vergiften! Bei jeder Mahlzeit hätte sie auf die unschuldigste Art und Weise den alten Mann aus dem Häuschen ärgern können. Frauen sind ja darin Meisterinnen. Sie wußte, daß er sie liebte, sie hätte ihm also nur so ganz beiläufig einzuflößen brauchen, daß sie von diesem oder jenem Bekannten schlecht behandelt wurde. Oder sie hätte ihm ihre übeln Erfahrungen mit der Dienerschaft aufs Brot streichen können, oder ihm Speisen bereiten lassen, von denen sie wußte, daß er sie verabscheute, und ihm dann versichert, er habe sie selbst bestellt. Und so weiter, immer in der Art, daß er sich nicht über sie, sondern über andere oder sich selbst geärgert hätte. Und hätte er schließlich den Schlaganfall erlitten, der auf ihn lauerte, so wäre seine Tochter nicht als Mörderin geköpft, sondern als Märtyrin eines griesgrämigen alten Tyrannen von aller Welt bedauert worden.

Die Welt macht Fortschritte.

Vielleicht entdeckt aber der Arzt in New York auch noch, daß ein Mensch, der sich tüchtig geärgert hat, den gesundheitsschädlichen Folgen seines Ärgers da- durch vorbeugen kann, daß er seinem Ärger energisch und ausgiebig Luft macht.

Doch damit kann es der Herr Professor halten, wie er will.

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    Katalognummer BW-AK-012-2594